6. Kapitel – VolljĂ€hrig, und jetzt?

Freja Kallabis-Schaub

von Freja Kallabis-Schaub

Story

Mit Erhalt meiner Diagnose habe ich auch meinen Standpunkt innerhalb der Familie geklĂ€rt. Ich habe es aufgegeben zwanghaft perfekt wirken zu wollen, aus Angst was die anderen andernfalls von mir denken wĂŒrden. Denn zu kontrollieren und zu beeinflussen, was andere Leute von mir halten ist nicht meine Aufgabe. Diese Erkenntnis möchte ich mit allen teilen, die dieses Buch lesen. Es wird immer Menschen geben, fĂŒr die man nicht zuvorkommend genug ist, fĂŒr die man zu wenig spricht oder zu viel redet, fĂŒr die man sich zu chic kleidet oder zu langweilig. Man kann es nicht jedem recht machen und das ist auch gut so. Oft hat es mehr mit den UnzulĂ€nglichkeiten der anderen zu tun, weswegen sie Sie nicht mögen, als mit Ihnen selbst. Als konkretes Beispiel möchte ich dazu eine Geschichte erzĂ€hlen. Sie handelt von einer Person aus meiner Familie, die mich von Geburt an nicht leiden konnte und das auch öfters offen zur Schau gestellt hat. Ich wusste nie, weshalb diese Frau mich nicht mochte, nur dass sie es nicht tat. Dann, viele Jahre spĂ€ter, hat mir ein anderes Familienmitglied den Hinweis gegeben es könnte daran liegen, dass diese Person gern eine eigene Tochter gehabt hĂ€tte, jedoch nur Söhne hatte. Sie verstehen hoffentlich, was ich damit sagen möchte. Manchmal wird man nicht gemocht und an dieser Tatsache kann man rein gar nichts Ă€ndern. Sobald man diesen Umstand akzeptiert, fĂ€llt eine Last von den Schultern und man fĂŒhlt sich plötzlich ganz frei. Dieses GefĂŒhl der Freiheit bin ich gerade erst am Kennenlernen. Es ist noch ein weiter Weg bis zur Selbstakzeptanz, aber ich gehe ihn gewissenhaft – Schritt fĂŒr Schritt. 

Mit meinem achtzehnten Lebensjahr erhielt ich nicht nur meine Autismus-Diagnose, ich erlangte ebenso die VolljĂ€hrigkeit. Das Erwachsenwerden war fĂŒr mich und fĂŒr viele meiner Freunde auf dem Spektrum eine ambivalente Zeit. Einerseits erfreute ich mich an den neuen Freiheiten, andererseits ĂŒberkam mich das GefĂŒhl der Ratlosigkeit. Bloß weil ich offiziell die VolljĂ€hrigkeit erreicht hatte, bedeutete das nicht, dass sich meine BedĂŒrfnisse in Luft aufgelöst hatten. Mir ist aufgefallen, dass es fĂŒr autistische Menschen im Erwachsenenalter nur wenig Anlaufstellen oder Hilfsprogramme gibt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man nach der VolljĂ€hrigkeit als Autist oft allein auf weiter Flur steht. Viele Ämter fĂŒhlen sich nicht mehr zustĂ€ndig. Ich wĂŒnschte mir, dass auf autistische Erwachsene gesellschaftlich mehr eingegangen wĂŒrde. Dass man Inklusion nicht nur verspricht, sondern auch dementsprechende Taten folgen lĂ€sst. Ein Ruheraum, abgetrennte BĂŒros bei der Arbeit anstelle von GroßraumbĂŒros, eine ruhige Stunde in SupermĂ€rkten, in der autistische Menschen einkaufen gehen können, kĂ€me mir da ganz spontan in den Sinn.

Und was am wichtigsten ist, wie ich finde, man sollte in der Gesellschaft ein tieferes VerstĂ€ndnis fĂŒr die BedĂŒrfnisse autistischer Menschen schaffen. Anstelle die neurodiversen Kinder zwanghaft an die Gesellschaftsanforderungen und Normen anpassen zu wollen, sollte man Akzeptanz fĂŒr die Andersartigkeiten von Leuten auf dem Spektrum normalisieren und ihre Schrullen und Eigenheiten akzeptieren und zulassen. Denn tut man das nicht, gibt man der autistischen Person unmissverstĂ€ndlich das GefĂŒhl, nicht richtig zu sein, so wie sie ist. Dadurch können Selbstzweifel, Ängste und Depressionen entstehen.  

© Freja Kallabis-Schaub 2023-06-27

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Biografien
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