von Simon Kilmovski
Wanted To
Bis 2018 entwickelt sich mein Musikgeschmack in Phasen. Begonnen mit hauptsächlich Hip-Hop, hinein in eine Phase, in der Musik so freaky, ausgefallen und aggressiv wie möglich sein muss, bis heute, wo weniger alles für mich ist und die am simpelsten scheinenden Nummern mich am tiefsten treffen. Mit Wanted To hat das angefangen.
Wenn ich Hildegard Knef den Musikern Maeckes und Tristan Brusch verdanke, dann verdanke ich den kanadischen Sänger Sam Vance-Law dem Rapper Casper. Letzterer hat eine Zeit lang seine Lieblingsalben des Monats mit Screenshots seiner Notes-App vom iPhone auf Instagram geteilt. Und da auch Casper mich jahrelang enorm bewegt hat, interessieren mich die dort angeführten Alben immer. Im März 2018 steht dort Sam Vance-Laws Album Homotopia weit oben. Ein Titel, der gehört werden will.
Ich weiß nicht, was mich erwartet, aber mit sentimentalem Pop habe ich nicht gerechnet. Wanted To ist das erste Lied des Albums. Beim Schreiben merke ich, dass es mir die Intros von Alben besonders oft antun. Dieses hier bringt jedes seiner Elemente auf das nötigste Minimum. Die Klaviermelodie startet mit den immer gleichen Tönen, mehrfach wiederholt. Eine einzige Geige untermalt den Pianorhythmus ganz unauffällig.
Bis auf eine Ausnahme (im 16. Kapitel) hat kein anderer Song, der hier besprochen wird, weniger Zeilen im Text. Die Worte von Sam Vance-Law bringen ein ganz komplexes soziales Problem auf die tragischste und bildlichste Weise auf den Punkt. Eine Kurzgeschichte, die erzählt, was andere Abhandlungen mit ungeheurer Länge nicht schaffen.
Was ich hier auch bemerke: Früher war es mir sehr wichtig, dass in Liedern Haltungen direkt gezeigt werden. Das kommt wohl aus meinen klassischen Rapwurzeln, in denen das Anprangern von Ungerechtigkeiten im System Teil der Entstehungskultur ist. Heute bringen mich Geschichten ohne konkrete Ansagen, aber mit genug Türen für Räume zum Nachdenken, am weitesten. Was nicht heißt, dass ich Lieder mit klarer Kante gar nicht mehr schätze. Doch vielleicht hat das Alter mich weicher gemacht.
Die Melodie von Wanted To ändert nur an einer Stelle ihre gewohnte, eher romantisch süßliche, Stimmung. Das hat einen Grund. Das brechende Herz, das in vielen anderen Popsongs ebenso erwähnt wird, habe ich nie so zu Tränen gerührt miterleben dürfen wie auf diesem Lied.
Es schockiert mich zwar stark, aber sicher nicht so stark wie den Sänger selbst, dass, laut einer Anmerkung auf der Plattform Genius, manche Menschen im Publikum am Wendepunkt des Liedes lachen anstatt zu weinen. Das zeigt vielleicht auch, wo eines der viel zu vielen Probleme liegt. Es kann schön sein, wie verschieden auf Lieder und ihre Geschichten reagiert wird. Hier wirkt das Lachen mancher Leute leider nur ignorant und grausam.
© Simon Kilmovski 2024-08-28