6. Zu früh für Unvergänglichkeit

Sarah Giese

von Sarah Giese

Story

Regen ergoss sich in Sturzbächen über das Gelände, ertränkte die Grasfläche und verwandelte sie in eine matschige Unannehmlichkeit. Simon stand unter dem Vordach seines Elternhauses und starrte hinaus auf den entstehenden Sumpf, ohne ihn wirklich zu sehen. Wie ein lebendiger Vorhang zog sich das Wasser in Fäden vom Dach hinunter, die Massen zu groß, als das die Regenrinne besonders viel hätte ausrichten können. Simon mochte die Vorstellung, dass hinter diesem Vorhang noch alles in Ordnung war. Dass die Trauer und Bedrückung in diesem Haus gefangen und nur ein Traum war, aus dem man erwachte, sobald man es wagte hindurch zu treten. Jemand tippte ihm auf die Schulter. Simon zuckte nicht einmal zusammen, er fühlte sich so leer, als würde ihn nie wieder etwas erschrecken können. Er wandte sich um und blickte in Saras Gesicht. Es sah mindestens so elend aus, wie das Wetter draußen, die Lippen rau und zerbissen, die Wangen geschwollen, die Augen rotgeweint. Trotz allem bekam sie ein kleines Lächeln zustande.„Wie geht es dir?“, fragte sie und ihre Stimme war über das Prasseln des Regens kaum zu verstehen. Simon zuckte nur mit den Schultern. Er traute sich nicht zu sprechen, zumal er auch nicht wusste, wie er seinen Gemütszustand derzeit mit Worten ausdrücken sollte. Vermutlich konnte man es ihm genauso ansehen, wie seiner Schwester. Ihr Nicken bestätigte es.„Du stehst schon ziemlich lange hier draußen. Sicher, dass du nicht lieber reinkommen möchtest?“, fuhr sie fort, aber Simon schüttelte den Kopf, bevor sie die Frage beendet hatte.„Es ist…“, er hielt inne, überlegte, „zu viel da drinnen. Ich…alle sind so…“ Er verstummte, bekam die Worte nicht über die Lippen. Sara hatte die Haustür offen gelassen und hinter ihr konnte er das geschäftige Treiben erkennen. Die schwarz gekleideten Gestalten, die Blumen, das Flüstern, die Tränen. Ein lebendes Kollektiv aus Schluchzern, das sich wie Wellen aus der offenen Tür erbrach. Es war unwirklich. Es schnürte ihm die Kehle zu.Sara nahm ihn in den Arm und legte den Kopf auf seine Schulter. Simon schloss die Augen und er sah wieder den bleiernen Himmel über dem Kirchendach, wenige Stunden zuvor. Die Unzahl an Gesichtern, so grau wie die Wolken über ihnen. Und den Sarg, geschmückt, aber nichtssagend, unscheinbar trotz des Sturms an Gefühlen, den er einschloss. Eine Illusion von Frieden, von Ewigkeit. Neunzehn war zu früh für Unvergänglichkeit.Wie konnte es kein Traum sein? Simon presste die Kiefer zusammen, seine Schultern begannen zu beben und Sara drückte ihn fester an sich. Bitte, warum konnte es kein Traum sein?

© Sarah Giese 2022-08-31