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Philip Michels

von Philip Michels

Story

Astrid mochte keine Autos. Aber sie hatte keine Wahl. Das Fahrrad war keine Option, viel zu langsam, und das Taxi würde einen Zeugen bedeuten. Wenigstens verfügte das Leihfahrzeug über eine automatische Kupplung, ansonsten hätte sie es nicht mal aus der Tiefgarage geschafft, ohne den Motor zu beschädigen. Das Leder der Rückenlehne quietschte unter ihren schwitzigen Oberarmen und der Innenraum roch nach Neuwagen. Sie starrte durch die Windschutzscheibe auf die Ecke, um die der blaue Volvo fünfmal die Woche zuverlässig abbog. Das Blut wurde durch den festen Griff um das Lenkrad aus ihren Fingern gepresst und ihre Haare waren streng nach hinten gebunden. Jedesmal, wenn sie den Kopf drehte, spürte sie ein Ziehen an der Haargrenze. Sie empfand dies nicht als unangenehm. Ein guter Zopf muss ziehen, hatte Astrid ihr immer gesagt. Einverstanden war sie nie.

Schon als der Volvo um die Ecke kam, zuckte ihre Hand zum Zünder. Die Glocke hatte noch nicht geläutet und der Volvo war noch nicht mal auf dem Parkplatz, doch die knochige Hand trennte sich nicht mehr von dem Schlüssel. Das Mädchen war wie immer eines der Letzten, die das Gebäude verließen, sie grüßte ihren lehnenden Vater, schmiss den Rucksack auf den mittleren Hintersitz und stieg ein. Der Mann ging um die Motorhaube herum zur Fahrertür und begab sich hinter das Steuer. Der Volvo parkte aus. Astrid drehte den Schlüssel.

Sie erschrak sich durch die plötzliche Vorwärtsbewegung, das Gaspedal war empfindlich, doch sie lenkte keine Aufmerksamkeit auf sich. Der Volvo bog um die Ecke, um die er gekommen war, und Astrid folgte ihm. Bei der ersten roten Ampel konnte sie durch die Heckscheibe sehen, wie die Kleine den Sitz vor ihr umklammerte und ihrem Vater wahrscheinlich den Tagesbericht ablieferte. Sie konnte das Lächeln des Mannes im Rückspiegel sehen. Ihr kam der Gedanke, dass er sie ebenso sehen konnte wie sie ihn, doch beruhigte sich schnell wieder. Sie war ein Verkehrteilnehmer wie jeder andere. Sie war sicher.

Er führte sie aus dem Zentrum heraus, vorbei an den Supermarkt-Komplexen und Autowaschanlagen der Stadtgrenze, in ein von Reihenhäusern geprägtes Wohngebiet. Die Häuser waren modern, die großen Fenster waren umgeben von etlichen Grautönen, die seit ein paar Jahren die Fassade der Neubauten zu dominieren schienen. Astrid fragte sich, in welchem dieser Massenprodukte die Kleine noch zu Hause war, und sah ihre Frage kurz danach beantwortet. Der rechte Blinker leuchtete auf, und der Volvo rollte auf den grauen Teppich vor der Tür. Astrid verringerte den Druck auf dem Gaspedal und verlängerte den Abstand noch weiter, seit sie in dem Wohngebiet war, hatte sie darauf geachtet, nicht zu dicht am Volvo herzufahren. Die Kleine stieg aus und wartet vor dem Eingang auf ihren Vater, der noch ein paar Einkaufstüten aus dem Kofferraum nahm. Er gab ihr den Schlüssel, sie führte ihn ein, und kurz danach verschwand sie hinter Schloss und Stein. Astrid sah die Hausnummer. Amselweg 27a.

© Philip Michels 2021-08-15