7. alles steht Kopf

LM P

von LM P

Story

Ich wünschte, ich hätte Stella schon früher helfen können. Das, was ich alles las, war vielleicht nur ein Bruchteil von ihrer ganzen Lebensgeschichte. Sie litt ihr Leben lang. Sie kämpfte ihr Leben lang. Sie tat alles dafür, dass alle denken, ihr geht es gut. Sie hat ihre Maske so gut einstudiert, dass man gar nicht merkt, dass ihr grade gar nicht nach lächeln ist, sondern eigentlich nach weinen.

Hier stehen keine Jahreszahlen dahinter, entweder es ist alles von diesem Jahr oder sie schrieb es immer so auf. Ich bin unfassbar traurig, dass sie sich solche Schmerzen zugefügt hat und solch schrecklichen Gedanken über sich selbst aber auch generell hatte. Eigentlich zeigt man ja keinem seine Tagebucheinträge. Man schreibt es nur für sich. Um loszulassen und zu verarbeiten. Sie wollte sterben, weil sie ihr Leid, was sie mit sich trug, nicht mehr aushielt. Für dass, was andere ihr angetan haben, wollte sie sterben. Sie hasste sich zutiefst. Ihr ganzer Körper war gezeichnet mit Narben. Jedes Mal, wenn ich sie berührte oder nur an ihr vorbeistreifte, zuckte sie zusammen. Sie war es nicht gewohnt, liebevoll oder generell angefasst zu werden. Sie sah sich selbst als ihre größte Konkurrenz, die niemals aufhören würde, gegen sie anzukämpfen. Der Fakt, dass es ehrlich so gemeint war, was sie dort geschrieben hatte, schockierte mich einfach nur. Alles, was dort von ihr niedergeschrieben war, dachte sie ernsthaft über sich. Ich lag Stunden lang einfach nur in meinem Bett, starrte die Decke an und ging in Gedanken das ganze Buch durch. Sie lächelte zwar nicht viel, solang wir uns kannten, aber wenn sie lächelte, dann behielt man es im Kopf. Es tut mir so leid für sie, dass sie nur negative und schlechte Erfahrungen am Leben gemacht hatte. Aber ich musste mich auch selbst dran erinnern, dass ich ihr ein Stück weit das Gegenteil zeigen konnte. Dass das Leben nicht immer so scheiße unfair ist. Deswegen habe ich diesen Deal mit ihr gemacht. Nicht, um sie ins Bett zu bekommen, wie sie es mir vorwarf. Ich kann jetzt verstehen, dass sie gleich so schlecht denkt, wenn sie es nicht anders kannte. Sie musste schon negative Erfahrungen damit gemacht haben und als es bei uns wahrscheinlich eine ähnliche Situation gab, dachte sie, es wiederholt sich. Ich wünschte, ich hätte ihr noch mehr zeigen können. Ich wünschte, ich hätte sie mal so richtig zum Lachen bringen können. So sehr, dass sie einen Krampf im Bauch bekommt und weinen muss. Ich wünschte, sie hätte mehr Spaß am Leben gehabt. Ich hätte mir gewünscht, dass sie ihr Leben genießt und nicht alles kaputt denkt. Aber wenn alles um einen herum so depressiv ist, dann ist es kein Wunder, dass es auf sie abfärbt. Sie hat ja nur noch ums Überleben gekämpft. Sie wollte schon lange sterben, doch nur ihr Kopf hielt sie noch auf. Und der Schmerz beim Tod wahrscheinlich auch. Ich glaube, niemand will schmerzhaft sterben. Ich frage mich, wie sie es überhaupt geschafft hat, solange durchzuhalten. Wie muss es sich anfühlen, permanent fertig gemacht zu werden? Sie hat nichts, an dem sie festhalten konnte. Sie war mit sich allein, aber nicht im Reinen. Wenn ich ihr erster Schutzengel war, wer ist denn der Zweite, der meine Stella gerettet hat? Ich kann nicht länger ohne sie leben. Ich will sie bei mir haben und nicht länger über sie trauern. Ich muss sie endlich wieder sehen. Ich möchte sie riechen, fühlen. Ich bin nicht mehr ganz ohne sie. Mit ihr ist ein Teil von mir gegangen. Ich ziehe die Decke über den Kopf und versuche mal wieder vor der Realität zu fliehen.

© LM P 2024-08-26

Genres
Romane & Erzählungen