7. Loslaufen

Christina Narval

von Christina Narval

Story

Wenn wir uns aus der Starre des ersten Schocks befreien und diese mit Trauerverarbeitung auflösen, schaffen wir das Manöver in den Hafen. Wir legen am Steg an und springen aus dem Schiff. Boden unter den Füßen! Endlich! Aber Achtung: Es ist nicht das Land, auf das wir uns vorbereitet haben. Wir sollten uns erst umsehen.

Vor allem, wenn die Trauerphase zu kurz war oder sogar übersprungen wurde, kann es leicht passieren, dass wir, um die aufgestaute Energie der Schockstarre abzubauen, sofort blind losrennen. Bei vielen schwenkt nun das Pendel um: Aus der Starre laufen wir hyperaktiv herum und versuchen, so viel wie möglich in Bewegung zu bringen. Zunächst ist es positiv, seine Energiereserven zu mobilisieren. Schließlich gibt es viel zu tun. Aber was genau ist hilfreich? Bevor ich mich dieser Frage eingehend widmete, rannte ich bereits los.

Ich vereinbarte haufenweise Therapien, in der Hoffnung, sie würden schnell eine Erleichterung bringen. Statt zur Entspannung der Situation beizutragen, stürzte ich mich damit aber in ein Hamsterrad, das sich noch schneller drehte, von Arzt zu Ärztin, von Therapeut zu Therapeutin, und wollte nur nichts auslassen. Was auch immer helfen könnte, musste in unserem Potpourri dabei sein: Musiktherapie, Ergotherapie, Aromatherapie, Diäten, Verhaltenstherapie … Ich schaute gar nicht darauf, was Aaron wirklich brauchte, ich hatte auch kein Ziel vor Augen, was wir eigentlich erreichen wollten. Aber wenn wir möglichst schnell in irgendeine Richtung starten, kann es uns passieren, dass wir nicht schneller am Ziel sind, sondern uns im Gegenteil schneller vom Ziel entfernen. Und dabei auch all unsere Energie verbraucht haben.

Dieses Verhalten kann sich auch auf andere Lebensbereiche übertragen. Wir klopfen alles ab auf seine Tragfähigkeit. Weil unser Weltbild schwankt, sind wir geneigt, in dieser Phase so viele Unsicherheiten wie möglich durch Klarheit und Ordnung zu ersetzen. Also Ambivalenzen auszuräumen, schnelle und eindeutige Antworten und Lösungen zu finden, selbst wenn diese nicht immer vorhanden oder angemessen sind. Die US-Wissenschaftlerin Catherine L. Cohan bestätigte diesen Mechanismus in einer Studie. Dabei stellte sie fest, dass nach Naturkatastrophen eine überproportional hohe Scheidungsrate auftrat, gleichzeitig jedoch Paare spontan heirateten, die sich erst wenige Wochen zuvor kennengelernt hatten. Dasselbe gilt für Freundschaften und manchmal sogar für den Beruf. Wie ein kleiner Steinschlag eine gesamte Geröllhalde ins Rollen bringen kann, kommt es vor, dass Familien viele andere Teile ihres Lebens ändern.

Aber halten wir hier lieber einen Moment inne. Lasst uns erkennen, dass es sich dabei um Ad-hoc-Entscheidungen handelt, die dem Verlangen nach Klarheit entspringen. Will ich diesen Schritt wirklich bewusst gehen oder ist es eine reine Reaktion auf äußere Unsicherheit? Verlasse ich meinen Partner, meine Freundschaft, meinen Arbeitsplatz, weil sie für mich tatsächlich keinen Wert mehr haben? Lassen wir uns nicht drängen. Derart tiefgreifende Entscheidungen wollen gut überlegt sein!

© Christina Narval 2024-03-05

Genres
Lebenshilfe
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend
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