Jetzt bin ich 70! Es gab keinen einzigen Tag in meinem Leben, an dem ich mir das vorstellen konnte. 70 war unvorstellbar. Mein Vater schloss an seinem 50sten Lebensjahr offiziell mit seinem Leben ab. Er war der Meinung, dass es jetzt reichen würde. Dem war natürlich nicht so, aber er nahm sich viel Lebensfreude für die restlichen Jahre. Meine Lebensfreude scheint ungebrochen. Sie erneuert sich beinahe täglich an den Früchten und Geschenken meiner 7 Jahrzehnte. Meine Schwiegertochter schickte mir, schon zeitig in der Früh, so wunderbare, wertschätzenden Wünsche. Ich durfte sie mit dem ersten Kaffee dankbar und genüsslich in mir aufnehmen. Meine Freundin erstellte ein Fotobuch von unseren gemeinsamen Aktivitäten, das mich überleben und meine restliche Familie ewig erfreuen wird. Mein 2. Sohn hat eine Videobotschaft für 10 Uhr angemeldet. Während ich schreibe, sehe ich so viele Glückwünsche eintrudeln.
Ich bin gesegnet mit dieser wunderbaren Familie, mit vielen Freunden. So viele Menschen denken an dieses Datum. Das beschämt mich, denn ich merke mir Daten sehr schwer. Zum hundertsten Mal nehme ich mir vor einen Geburtstagskalender anzulegen.
Der einzige Feiertermin, der heuer ausfällt, ist das Frühstück mit meiner Schwester. Sie ist 14 Monate älter und sehr krank. Das Schicksal hat sie mit voller Wucht getroffen. Warum gerade sie? Ich bin schon wieder davon gekommen. Seit Jahren bin ich unfassbar dankbar, dass meine große Familie von Schicksalsschlägen der wilden Art verschont wurde. Ich gehe nicht davon aus, dass das so bleibt und ich werde jeden einzelnen Tag froh sein, wenn es so bleibt. Natürlich erlebten wir Katastrophen, aber sie waren reparabel. Aber bitte, liebes Schicksal, wenn ich einen Wunsch frei hätte, so zum Geburtstag, suche dir uns Alte aus und verschone die Jungen. Diesen Gedanken werde ich heute an meine Schwester weitergeben. Vielleicht ist er auch in ihrer Situation tröstlich.
Das Leben ist genial. In dem Maße, wie meine Kräfte schwinden, verändern sich die Anforderungen des Lebens an mich. Die Enkelkinder schlafen durch, somit ist meine Nachtruhe bei ihren Besuchen nicht gestört. Die größeren brauchen kaum mehr meinen Einsatz bei ihrer Freizeitgestaltung. Das würde mich übrigens sehr überfordern. Meine Söhne übernehmen die Organisation der Familienfeste und mein Mann und ich leben in einem uns angenehmen Rhythmus. Die ersten unserer Freunde verschieben die Einladungen auf mittags, weil abends groß essen, auch nicht mehr so angenehm ist.
Dass der Tod näher kommt, stört noch nicht wirklich. Die Fassungslosigkeit angesichts plötzlicher Todesfälle im Freundeskreis allerdings hat eine andere Qualität. Die eigene Endlichkeit bekommt ein Gesicht. Und selbst hier helfen mir diese 70 Jahre. Sie sind geprägt von unzähligen Erfahrungen und Erinnerungen, die beim Reflektieren und Vorbereiten vielleicht hilfreich sind.
Dieser Geburtstag ist also ein sehr besonderer für mich. Ich habe ein bisschen das Gefühl, dass mein Leben einen Rahmen erhielt, aus dem ich nicht mehr heraus fallen kann.
© Kornelia Fussenegger 2025-03-22