Es wurde mir alles zu viel.
Der „Mindload“ (Gedankenlast) schlug mich direkt beim Erwachen nieder und es viel mir immer schwerer Morgens aus dem Bett zu kommen. Ich wusste nicht mehr, wofür ich eigentlich Aufstand. Für eine Schule in der ich den halben Unterricht heulend am Klo verbrachte? Für Hobbys und Tätigkeiten, die ich nurmehr tat, wenn ich mich dazu zwang? Für Familie mit der ich nurmehr streiten konnte? Oder für Freunde, denen ich zunehmend absagte, da ich nicht mehr die Kraft aufbrachte freiwillig aufzustehen? Alles, was mir früher Freude bereitet hatte, war scheinbar verloren gegangen. Ich schien jeglichen Sinn im Leben verloren zu haben. Alles wurde grau und bedeutungslos. Es schien keinen Unterschied mehr zu machen, ob ich nun lebe oder nicht. Wie als wäre alle Lebensenergie aus mir rausgesogen worden und nur eine leere Hülle meines Selbst zurückgeblieben. Meine bisherige Lebensweise brachte ihre verheerenden Konsequenzen ans Licht. Gefangen in dauerhafter Melancholie und chronischem Stress. Alles in mir schien nach und nach abzusterben. Meine Seele und Psyche fühlten sich längst schon tot an, nur mein Körper versuchte sich verzweifelt am Leben festzuklammern. Meine Zukunft, mein Leben schien hoffnungslos.
Heute erhielt ich die Nachricht über den Suizid einer ehemaligen Freundin. Ich komme nicht umhin zu denken: Das hätte ich sein können. Dort, am Boden meines Badezimmers.
Damals weinte ich so lange schon, alle Tränen waren versiegt. Es blieb nur Schmerz zurück. Er durchläuft meinen ganzen Körper. Ich halte dem nicht mehr stand. Ich halte mein eigenes Leben nicht mehr aus. Abwärtsspiralen laufen durch meinen Kopf, Vorstellungen wie die Welt ohne mich wäre. Der Gedanke, dass es keinen Unterschied macht, gräbt den Schmerz immer tiefer in mein Herz. Alles Zurückgehaltene quillt aus meinem Innersten hervor. Es scheint einfacher, sinnvoller alles zu Beenden.
Auge in Auge mit dem Tod, verliert plötzlich alles seine Bedeutung. Nur zwei Gedanken halten mich zurück. Einerseits verriet mir Google glücklicherweise nicht, ob die vorhandene Menge an Schmerzmitteln für den sicheren Tod ausreicht. Keinesfalls wollte ich in einer Anstalt, im Krankenhaus oder mit einer Lähmung wieder aufwachen. Außerdem hatte ich noch ein letztes verbliebenes Gefühl in mir. Die Liebe zu meinem kleinen Bruder Samuel. Seit der Trennung unserer Eltern waren wir viel füreinander dagewesen. Die reine, stille Anwesenheit des Anderen half, denn gemeinsam fühlten wir uns weniger einsam. Ich konnte ihn doch nicht alleine in dieser unbarmherzigen Welt zurücklassen. In diesem großen, verlassenen Haus. Zulassen, dass er all die Konflikte mit den Eltern statt mir durchmachen musste. Nein, ich wollte keinesfalls, dass die gleichen Fehler auch bei ihm gemacht wurden und das zum gleichen Leid führte. Angst, dass er irgendwann an den gleichen Punkt gelangen könnte, die gleichen Schmerzen erleiden musste. Nein! Ich wollte ihn schützen und dafür musste ich am Leben bleiben.
Dieser eine, selbstlose, starke Gedanke reichte, um mich in der Welt der Lebenden zu halten.
An der Seite meines Bruders.
© Lilli-Marie Höfner 2024-09-09