#9 ICH – Unverhofft kommt oft

Ich traue meinen Augen nicht. Das darf nicht wahr sein. Gerade noch genieße ich die Brise, die der Atlantik über die Cliffs of Moher zu mir herüberträgt. Ich hänge meinen verwirrenden Träumen nach, versuche, Klarheit zu bekommen. Und da steht er. Der Mund weit offen. Er kann es wohl selbst nicht fassen, mich vor sich stehen zu sehen.

„Stalkst du mich etwa?“, vielleicht lockert eines unserer üblichen Geplänkel diese unwirkliche Situation etwas auf. Er sucht wohl nach den richtigen Worten – und sieht unfassbar sexy dabei aus. Verlegen streicht er sich durchs Haar und versucht krampfhaft, cool zu bleiben. Ich muss zugeben, es ist mir gar nicht so unangenehm, ihn jetzt hier zu treffen. Vielleicht ist es auch Schicksal, dass er mich an genau dem Ort findet, mit dem ich mich so verbunden fühle. Obwohl ich noch nie hier war.

Die Reise bis jetzt war für mich ein einziger Wahnsinn. Und das im positivsten aller Sinne. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Hinter jeder Biegung verbirgt sich pure Geschichte. Geschichte zum Anfassen und Erleben. Ruinen, Steinmauern und spektakuläre Küstenabschnitte prägen diesen Teil der Insel. Ich kann mich nicht satt sehen an den unterschiedlichsten Grüntönen. Sonne und Regen wechseln hier oft innerhalb weniger Minuten und tauchen das ganze Land in eine sonderbare, fast schon mystische Stimmung. Hier fühle ich mich zum ersten Mal wirklich frei. Frei von all meinen Zweifeln und Ängsten. Die Menschen kommen mir mit einer unaufdringlichen Neugier entgegen, gegen die nicht mal ich mich zu wehren vermag. Sie sind freundlich und hilfsbereit – es ist beinahe schockierend. Und Balsam für meine geschundene Seele.

Der einzige Grund für etwas Trübsal seit ich hier bin, steht nun vor mir. Ich habe ihn tatsächlich vermisst. Obwohl ich erst wenige Tage unterwegs bin. Oft hat er sich in meine Gedanken geschlichen. Und jedes Mal war ich überrascht, wie wichtig er mir geworden ist. Ich wollte es nie wahrhaben, kann es aber nun zumindest mir selbst gegenüber nicht mehr leugnen.

Und jetzt ist er tatsächlich hier. Ich kann es nicht glauben. Aber unverhofft, kommt eben oft.