9. Juli: Ein Schuss vor den Bug

Pippin

von Pippin

Story

Ein Schuss vor den Bug. Das hatte der Arzt gesagt. Ich müsse auf meinen Körper hören. Sollte auf meine Gesundheit schauen. Mein Dasein etwas umstrukturieren, körperliche Auswirkungen durch eine Veränderung meines Alltags bewirken. Viele gute Ratschläge meines Hausarztes, Dr. Fischer. Mein physischer Zustand bereitet mir jedoch wenig Sorgen. Ich fühle mich gut und meinem Körper geht es ausgezeichnet. Es war nur ein kurzzeitiger Aussetzer. Vielmehr beschäftigt mich der Umstand, dass meine Lebenszeit abläuft. Der vitale Zusammenbruch war das Donnern und Dröhnen des herannahenden Todes, der Marsch der schwarzen Kapelle mit Pauken und Trompeten, die den finsteren Fürsten begleiten auf seinem Weg durch das Land, wo er sich seine Opfer holt. Das unausweichliche Ende ist deutlich am Horizont aufgetaucht. Bisher hatte ich kaum einen Gedanken an das Sterben verschwendet, dieser Moment war in meiner Wahrnehmung noch meilenweit weg, schließlich bin ich doch gerade erst in den Ruhestand gewechselt. Es ist gerade mal ein Jahr her, dass ich die Pension angetreten habe, ein Jahr, das wie im Flug vergangen war. Ich habe mich alles andere als gelangweilt, ich hatte doch fast nie einen Moment, in dem ich nicht wusste, was mit meiner neu gewonnenen Freizeit anfangen. Ich hatte doch noch einen großen Teil meines Lebens vor mir? Nun stellen sich mir existenzielle Fragen. Ich muss mir die verbleibende Zeit gut einteilen.

Was sind meine Ziele fürs Leben? Was möchte ich noch erreichen? Was habe ich überhaupt bisher erreicht? Was bleibt von mir, wenn ich einmal nicht mehr bin? Jetzt, wo das Ende zum Greifen nah scheint, überkommt mich Panik. Ich fürchte, mein Leben war umsonst, sinnlos. All die Jahre vergeudet? Ich habe mich bis zur Pensionierung auf meine Tätigkeit am Gymnasium konzentriert. Verbrachte den größten Teil meiner Zeit mit Lehren und Korrigieren sowie Lesen zum Weiterbilden. Vor allem seit Sylvias Tod. Damals stürzte ich mich voll und ganz in die Arbeit. Das war meine Ablenkung, meine Trauerverarbeitung. Das blieb bis zum letzten Schultag so, mit ganzer Energie in der Schule, von früh bis spät drehte sich alles um das participium coniunctum und den ablativus absolutus, um futur II und coniunctivus, um Caesar, Cicero, Catull und Horaz. Generationen von Schülerinnen und Schülern habe ich durch den Gallischen Krieg und die Reden gegen Catilina geführt. War das ein erfüllendes Leben?

© Pippin 2021-08-02

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