9. Myras Rückzugsort

Lena Kornherr

von Lena Kornherr

Story

Ich war alleine, als ich am nächsten Morgen wach wurde. Das war seltsam, denn Myra liebte langes Ausschlafen am Wochenende so sehr wie ich. Mit einem komischen Gefühl in der Magengegend stand ich auf und fand einen Zettel auf dem Küchentisch. „Bin unten im Studio“, stand in Myras krakeliger Handschrift darauf. Das war nicht gut, gar nicht gut. Hastig zog ich mir einen Hoodie über, schlüpfte in meine Turnschuhe, nahm meinen Wohnungsschlüssel und machte mich auf den Weg in den Keller. Nach Absprache mit dem Vermieter hatten wir in unserem Kellerabteil ein halbprofessionelles, schallisoliertes Musikstudio eingerichtet. Genau dorthin zog Myra sich immer zurück, wenn sie nachts eine Panikattacke oder gar ein Krampfanfall überrollt hatte. Das letzte Mal war schon eine Weile her und ich wollte auf keinen Fall, dass es wieder anfing. Besorgt klopfte ich und war ein kleines bisschen beruhigt, als meine Verlobte mich hereinbat. Sie saß mit ihrer Gitarre am Schoß auf dem dicken Teppichboden, neben ihr lag aufgeklappt ihr Notizbuch. Ich trat ein und setzte mich ihr gegenüber hin, da sprudelte sie schon los: „Bitte Love, sei mir nicht böse, aber ich hatte heute Nacht seit langem wieder einen Anfall, im Wohnzimmer. Das gestern war mir wohl alles zu viel.“ Sie sah zu Boden. „Aber sieh es positiv, ich konnte den Song von gestern fertig schreiben und aufnehmen.“ Seufzend nahm ich ihre Hand. „Myra, jetzt mal ehrlich, glaubst du wirklich, ich bin böse auf dich, weil du einen Rückfall hattest?“ Irritiert schüttelte sie den Kopf. „Wenn du es vorher merkst, solltest du mich nur wecken, du weißt doch, dass es gefährlich werden kann.“ Vorsichtig hängte ich die Gitarre zurück an ihren Platz und zog meine Verlobte hoch. „Na komm, wir machen uns mal Frühstück. Wie lange sitzt du eigentlich schon da unten?“ Myra zögerte kurz. „Seit halb zwei“, meinte sie dann schuldbewusst. Es war kurz vor zehn Uhr, sie hatte kaum geschlafen und wie ich sie kannte, wahrscheinlich auch nichts gegessen. Höchste Zeit also, dass sie zurück in die Wohnung kam. Während ich uns Spiegeleier machte, schrieb Myra schon an ihrem nächsten Song. „Du Neomy …“, fing sie plötzlich an. Oh oh, sie benutzte meinen echten Namen, nicht einen unserer geliebten Spitznamen. Was ich wohl ausgefressen hatte? „Wie würdest du es eigentlich finden, wenn ich endlich ein Album herausbringe?“ Warte, was? Meine zukünftige Frau will ein Album veröffentlichen, ihre Songs endlich der Welt zeigen! Vor Schreck ließ ich fast die Spiegeleier anbrennen. „Toll würde ich das finden Myra, wirklich toll!“, stammelte ich, als ich meine Sprache endlich wieder gefunden hatte. „Ehrlich?“ Sie strahlte. „Aber natürlich. Ich würde sofort Vorsitzende deines Fanclubs werden, das weißt du doch“, versicherte ich ihr. Sie kicherte und umarmte mich stürmisch.

© Lena Kornherr 2025-03-02

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Hoffnungsvoll