von Peter Haas
Die Geschichte habe ich schon mal aufgeschrieben, aber irgendwo abgelegt, wo ich sie im Augenblick nicht mehr finden kann. Nein, sie ist mir nicht entfallen, sondern nur abhandengekommen.
Ich erinnere immerhin den Kern. Das war nämlich so: Als ich einmal mit meiner 4-jährigenTochter beim Kirschenessen war, da legten wir gedankenverloren die Kerne vor uns auf den Tisch (ich habe immer, seit ich selbst darüber entscheiden durfte, Tische besessen, auf die man Kirschkerne legen durfte). Als die Kirschen aufgegessen waren, da lagen auf meiner Seite sieben Kerne, auf ihrer fünf. Du hast zwei Kirschen mehr gegessen,sagte sie prompt. Ich lobte sie wegen ihres Scharfsinns und meinte: Also, das hätten andere Kinder in deinem Alter nicht so erkannt.Anna fragt zurück: wieso? Da sind doch Spuren!Um diese Begebenheit herum hatte ich eine Geschichte über Spurensuche in der Steinzeit entwickelt.
Aber ich will das jetzt wirklich nicht ein zweites Mal erzählen. Es wäre eine überflüssige Anstrengung und am Ende, wenn diese Geschichte aus meinem Archiv wieder auftaucht, müsste ich auch noch die Entscheidung treffen, welche der beiden Geschichten die schlüssigere ist. Ich setze immer noch voraus, ich finde die zuerst geschriebene wieder. Wenn nicht, dann hat das ja möglicherweise auch etwas zu bedeuten. Jedenfalls wäre es albern, zwei ähnliche Geschichten zu veröffentlichen, denn dann würde der Leser zu Recht sagen, warum hat er sich nicht für eine der beiden Versionen entschieden? Ist es ihm so beliebig, eine Sache so oder ein wenig anders zu schreiben? Wo bleibt die Kunst?
Nun, könnte ich zurückfragen, wer sagt, dass es nicht neben jeder Geschichte noch zwei, drei, vielleicht hunderte von ganz ähnlichen Geschichten gibt, die doch alle selbst mit winzigen Nuancen von Unterschieden jede eine eigene, unverwechselbare Stimmung ausdrücken könnten und dann womöglich auch durch diese Nuance angestoßen, zu einem anderen, ganz anderen, überraschenden Schluss führen könnten? So könnte ich mir einen Schriftsteller denken, der eine einzige, ziemlich kurze Geschichte in tausend Variationen ausführen würde, und die Geschichten hätten alle ihre Daseinsberechtigung, weil sie gut und klug erzählt wären, nicht nur vollkommener, klarer und besser, sondern auch den Stoff unmerklich verändert hätten von Mal zu Mal, sodass am Ende eine neue Geschichte entstanden wäre, ganz und gar unterschiedlich von der ersten, und alle dazwischen ihre Daseinberechtigung zusätzlich noch erfahren würden, als Brückenbausteine von der ersten zur letzten. Und wenn mir auch die Geschichte im Augenblick nicht vollständig zur Verfügung steht, so hat sie doch indirekt zu diesen Gedanken beitragen können. Und das ist immerhin schon die Grundlage für die nächste Geschichte. Ich werde sie demnächst aufschreiben, bevor ich sie wieder vergessen habe. Manches vergeht nämlich schon, bevor es überhaupt erst richtig entstanden ist.
© Peter Haas 2021-07-06