Abgestumpft

Hannah Schlich

von Hannah Schlich

Story

In einem großen Zeitraum meines Lebens habe ich mich vor meinen Gefühlen abgeschottet. Ich sah sie als hinderliches Übel, was es zu ignorieren gilt, wenn ich Erfolg im Leben haben möchte. Ich redete mir ein, dass jede Emotion meine Konzentration auf das Wesentliche im Leben stört.

Mit dieser Logik versuchte ich alles zu rechtfertigen, wie zum Beispiel den Schlafmangel in den ersten Jahren der Mittelstufe. Schließlich müsse ich mich daran gewöhnen, wenn ich später mal meinen Traum leben will.

Keine Ahnung, wie ich immer auf solche bescheuerten Ideen gekommen bin. Vielleicht habe ich „Mit der Schule beginnt der Ernst des Lebens“ einfach zu wörtlich genommen…

Bereits in den ersten Jahren meiner Schulzeit hatte ich meine Karriere bis ins letzte Detail durchgeplant. Ich wusste also nicht einfach, welches Fach ich studieren möchte, die meisten Kinder haben da bereits erste Ideen. Im Gegensatz zu diesen Kindern kannte ich bereits alle Universitäten, die für mich in Frage kommen, inklusive dem Studienverlaufsplan und Prüfungsordnungen, sodass ich bereits alle Stundenpläne für jedes Semester + Auslandssemester im Kopf hatte. Von Schuljahr zu Schuljahr freute ich mich darauf, meinem Traum ein Stück näher zu sein.

Das war auch das Einzige, worauf ich mich früher immer gefreut habe, denn Schule war nichts, worauf es sich zu freuen gelohnt hätte. Das Wichtigste blieb die Leistung. Jedes Jahr war ich weit von dem entfernt, was ich erreichen musste. Solange ich nicht an meinem Ziel angekommen bin, kann ich mich nicht auf Gefühle konzentrieren.

Nach den Sommerferien war es nichts fremdes innerlich taub zu sein, aber irgendwas war auch anders. Noch nie habe ich mich gleichzeitig so sehr auf die Schule gefreut und den Unterricht trotzdem so sehr gehasst. Am liebsten hätte ich mich in die letzte Reihe verkrochen, um nicht mehr aufzufallen. Statt den Aufgaben hätte ich irgendetwas gezeichnet, denn konzentrieren konnte ich mich einfach nicht mehr.

Doch das hätte Fragen aufgeworfen, die ich einfach nicht bereit war zu beantworten. Also kratzte ich meine letzte Energie zusammen, setzte mich in die erste Reihe, setzte mein Standardlächeln auf und machte mehr mit als je zuvor.

Am Ende war selbst das besser, als zu Hause zu sein. Denn dort gab es wieder nur die Nachrichten, die langen Nächte und nichts anderes. Zuhause war ich allein mit meinen Gedanken und den Erinnerungen. Mit der Zeit wurde ich immer besser darin, genau das von mir zu schieben.

Gefühle machen uns als Menschen aus und genau das habe ich viel zu lange nicht begriffen. Sie sind so wichtig für unser Leben und bereichern uns mehr als der tollste Karriereweg auf der Welt. Wenn man anfängt, nichts mehr zu fühlen, ist das ein Signal, das man nicht ignorieren sollte. Genau das habe ich viel zu lange getan.

© Hannah Schlich 2022-08-26