Abschied

Charlotte Günther

von Charlotte Günther

Story

Die Sonne schien auf den großen Platz, der zu dieser Tageszeit noch nicht von der gewaltigen Baumkrone des Wohnbaumes überschattet wurde. Rotkehlchen pickten nach Körnern, während sich immer mehr Elfen am Fuße des Baumes versammelten. Die murmelnde Menge verstummte, als Avi aus dem Schatten des hohlen Baumes hervortrat. Die Erbin der Schwingen sprach sehr leise. Das grüne Licht, welches durch die Blätter drang, tanzte auf ihrer blassen Haut und auf ihren transparenten Flügeln, die das Licht in tausende, flüchtige Farben brach. Neptura traf ein und war tief in ihre Gedanken versunken und verpasste deshalb den Beginn von Avis Ansprache: „…obwohl ich ohne Familie aufwuchs, habe ich mich dank euch nie einsam gefühlt.“, Das war gelogen, dachte Neptura. Avi hatte ihren hölzernen Käfig nur selten verlassen dürfen, denn sie war der wertvollste Schatz ihres Volkes. „Es schmerzt mich euch zu verlassen.“ Avis Ammen weinten. Die Schamanin, die Älteste ihres Stammes hatte ihr verschmitztes Wesen abgelegt und blickte abwesend in das Dickicht des Waldes. Viele Frauen in der Menge schluchzten, als Avi herantrat, um sich zu verabschieden. Wie gerne hatten Neptura und Avi Honiggebäck bei den Ständen vieler dieser Frauen gekauft, um sie irgendwo zwischen den Blättern zu essen. Es hatte sie immer jemand auf ihren Spaziergängen durch das Dorf gegrüßt. Die Leute waren so warmherzig und offen, dass Avi und Neptura fast jeden kannten. Avi lächelte, das alles würde sie heute hinter sich lassen.

Wie Neptura später erfahren würde, hatte Saturin die Zeremonie ungesehen beobachtet und bereits dort beschlossen sein Volk zu verraten. Neptura eilte noch schnell nach Hause, um sich von ihrer Familie zu verabschieden. Ihre Schwestern spielten vergnügt im Garten und beachteten ihre Schwester nicht weiter, als sie ihre bereits gepackten Sachen schulterte. Neptura nickte ihrer Mutter zu und verließ das sonnendurchflutete Haus ohne sich noch einmal umzudrehen. Auf dem Weg durch das Dorf wünschten einige der Dorfbewohner ihr viel Glück und einen guten Flug. Sie solle gut auf sich aufpassen, sagte man ihr. Neptura lächelte traurig und die Elfen lächelten zurück. Zugkarren mit frischer Ernte aus dem Süden des Dorfes, gezogen von großen Haselmäusen, rollten an ihr vorbei. Als sie sich gerade an den Aufstieg zum Flugplatz machen wollte, erblickte sie Saturin. Er folgte ihr schweigend, da er offensichtlich den Weg nicht kannte. Auch wenn Neptura es sich nicht erklären konnte, aber im goldenen Schein der Mittagsonne, mit den Geräuschen des emsigen Treibens und dem Zwitschern der Vögel im Hintergrund, kam sie nicht drumherum, als dass sie eine Art von Frieden tief in ihrem Inneren verspürte. Auch wenn dieser unhöfliche Fremde neben ihr lief, so wirkte seine Art doch beruhigend auf sie. Seine blaugrauen Augen, seine stets unzufrieden erscheinender Mund, das Rot seiner Narben, die seltsame helle Farbe seiner Haare. Ihr fiel jetzt erst auf, dass seine spitzen Ohren so viel kleiner waren, als es in ihrem Wald normal war, das lag wohl an der Kälte im Norden, dachte Neptura. Als sie das Kreischen der Greifvögel hörte, wurde sie je aus ihren Gedanken gerissen und auch Saturins prüfender Blick holte sie in die Realität zurück. Er hatte offensichtlich bemerkt, dass Neptura ihn beobachtet hatte und strafte sie nun mit missbilligenden Blicken.

© Charlotte Günther 2023-08-30

Genres
Science Fiction & Fantasy
Stimmung
Traurig