von NeleChryselius
Es war ein einschneidendes Erlebnis, eines, das ich nie vergessen werde. Und jetzt kann ich endlich auch darüber schreiben. Jetzt, da ich nach wie vor oft daran denke, aber der Gedanke mich nicht mehr aus dem Gleichgewicht bringt und ich ihn auch ruhen lassen kann.
Ich habe gespürt, dass Verletzung zu Groll führte und Groll zu Verbitterung wurde. An diesem Punkt blieb ich viele Jahre stehen. Immer wieder stellte ich mir die Frage, warum wir uns nicht ein letztes Mal sehen durften. Ich sprach darüber mit Freunden und erhielt stets dieselbe Antwort. Auch in anderen zerstrittenen Familien waren Kontakte abgebrochen. Angesichts des Todes trat das jedoch in den Hintergrund, zumindest für eine kurze Zeit. Ich kenne bis heute niemanden, dem, wie uns, der Abschied verwehrt wurde.
Meinen letzten Brief hast du nicht erhalten. Deshalb konntest du nicht wissen, dass ich dich noch einmal sehen wollte. Später erfuhr ich, dass du kurz vor deinem Tod nach mir gefragt hast, aber keine Antwort bekamst. Wie grausam, einem Sterbendem den Kontakt zur Tochter zu verwehren. Ich dachte dann, diejenigen, die das zu verantworten haben, würden diese Schuld spüren. Aber dieser Gedanke half mir nicht, meinen Schmerz, meine Ohnmacht besser zu ertragen. Und dann begriff ich auch, dass es mein Gewissen war, dass mit dieser Last nicht hätte leben wollen. Über das Gewissen der Verantwortlichen weiß ich nichts, werde es nie erfahren.
Nachdem ich erfuhr, dass du gestorben warst, suchte ich Trost. Ich nahm meinen Mut zusammen und rief deine Schwester an. Auch dieser Kontakt war seit vielen Jahren unterbrochen. Meiner Tante erging es nicht viel anders als mir. Sie schlug kurz nach deinem Tod die Zeitung auf und las deine Todesanzeige, die erst nach der Trauerfeier veröffentlicht wurde. Die Tante und ich waren also eine kleine Schicksalsgemeinschaft, wir sprachen häufig miteinander. Ich besuchte sie in meiner Heimatstadt. Sie zeigte mir Briefe, die du ihr als junger Mann geschrieben hattest. Ich lernte eine bis dahin unbekannte Seiten von dir kennen. Du schriebst von Gefühlen, Glücksmomenten, der Freude auf ein baldiges Wiedersehen. Hätte ich deine akkurate Schrift nicht erkannt, hätte ich diese Worte niemals mit dir in Verbindung gebracht. Du, der du mir beigebracht hattest, dass man Gefühle vielleicht empfindet, aber auf keinen Fall ausspricht, warst voll Zärtlichkeit für deine Schwester und teiltest ihr das sogar mit. So erfuhr ich, wie eng verbunden ihr zwei früher wart. Einmal, als ich die Tante besuchte, war zufällig ihr Sohn aus Berlin ebenfalls da. So kamen auch wir wieder in Kontakt miteinander. Schnell stellten wir fest, dass wir uns verbunden fühlen. Mein Cousin und ich sehen uns seitdem häufig.
Ich konnte zwar nicht von dir Abschied nehmen, Vati. Aber ich bin sicher, es würde dich glücklich machen, wenn du sehen könntest, wie gut wir, die Kinder der einstmals liebenden Geschwister, sich verstehen.
© NeleChryselius 2021-01-05