von LillyRuth
Ende und Anfang. Anfang und Ende. Sie sind beide Teile des gleichen großen Ganzen. Seit fünf Jahren trage ich auf meinem rechten Handgelenk ein Band mit dem Unendlichkeitszeichen – einem liegenden Achter – der keinen Beginn und keinen Abschluss hat. Alles geht in dieser Zahl ineinander über. Das Schmuckstück hatte mich intuitiv angesprochen. Es hatte keinen großen materiellen Wert und ich hätte auch nie gedacht, dass das schwarze Bändchen, an dem das silberne Zeichen befestigt ist, so lange halten würde. Aber Tatsache ist, dass ich das Armband seit dem Tag, an dem ich es mir überstreifte, so gut wie nie wieder abgenommen habe. Weder beim Duschen noch beim Schlafen. Es wurde ein Teil von mir. Ganz von selbst. Und ohne, dass ich ihm eine höhere Bedeutung beigemessen hätte. Das tue ich auch jetzt nicht. Es ist lediglich ein Symbol. Mehr nicht. Und eines Tages wird es wohl kaputt sein und ich werde es entsorgen müssen.
Doch dieser Tage verweilt mein Blick intensiver auf der liegenden Acht, die ich immer bei mir trage. Der Sommer geht nun vorüber und mit diesem Abschied wird mir erneut die Endlichkeit aller Dinge bewusst. Von Jahr zu Jahr werde ich wehmütiger, wenn die warme Jahreszeit in die kühlere übergeht. Und auch dankbarer. Für jeden strahlenden Spätsommertag, der uns noch bleibt. Für jeden warmen Windhauch, der sanft die Wangen streift. Schöne Sonnenauf- und Sonnenuntergänge nehme ich intensiver wahr. Immer begleitet von der Frage: Wieviele von ihnen werden mir heuer noch geschenkt? Das bevorstehende Loslassen schärft die Sinne. So muss sich ein Mensch fühlen, der am Ende seines Lebens steht. Oder ein Liebespaar, dem eine vorübergehende Trennung bevorsteht. Die schönen Dinge werden nochmals ganz nahe herangezoomt, um später davon zehren zu können.
Manchmal fühle ich mich wie die Maus “Frederick” im gleichnamigen Kinderbuch von Leo Lionni. Ich sammle Sonnenstrahlen, die ich tief in mir abspeichere und die auch an noch so kalten Wintertagen mein Inneres wärmen. Im Vorjahr habe ich es verabsäumt, diese speziellen Vorräte einzusammeln. Warme Tage hätte es freilich genug gegeben. Doch die Trauer um ein Familienmitglied, das seit dem Jahr 2020 nicht mehr unter uns ist, bemächtigte sich meiner. Sie verschlang mich wie ein gefräßiges Tier. Ich – die ewige Optimistin – war vorübergehend zur Schwarzseherin geworden. Es benötigte viele Stunden des Weinens bis es leichter wurde ums Herz herum. “Es gibt nichts, das für den Körper wirkungsvoller und heilsamer ist, als bei Kummer die Tränen fließen zu lassen”, sagte mir einst ein weiser Mensch. Er hatte recht. Erst in diesem Sommer gelang es mir, wieder zu meinem alten Ich und zu meiner früheren Stärke zurückzukehren.
Vielleicht bin ich deswegen heuer so wehmütig, wenn es gilt, die wärmenden Tage gehen zu lassen. Doch loslassen bedeutet, die Hände frei zu haben. Also lasse ich ihn ziehen. Den Sommer. Und so vieles andere auch.
© LillyRuth 2021-09-05