Manchmal birgt die Trauer auch etwas Magisches, etwas Hoffnungsvolles in sich.
So wie bei Loisi, als sie sich dazu entschied, diese Welt zu verlassen.
Es war Adventzeit. Überall ging am späten Nachmittag die Weihnachtsbeleuchtung an. Der Schnee, der in diesem Jahr Mitte Dezember lag, glitzerte tagsüber im Sonnenschein und es war klug, sich warm anzuziehen, denn die Temperaturen fielen auf weit unter Null Grad.
Im Pflegeheim waren wir alle sehr bemüht, den Bewohnern eine schöne Zeit zu bereiten. Wir sangen Adventlieder mit ihnen, schmückten den Wohnbereich und backten gemeinsam Kekse. Manche konnten das noch sehr gut, andere wussten mit dem Teig nicht mehr viel anzufangen und sahen einfach zu oder starrten vor sich hin, abgedriftet in eine Welt, in die wir keinen Zugang fanden.
So wie bei Loisi.
Sie saß meistens allein, wollte oder konnte sich nicht mehr mit den anderen unterhalten. Ihre Demenz ging schleichend, aber stetig voran und es wurde immer schwieriger, mit ihr zu kommunizieren, was sich auch auf die Frequenz ihrer Besuche auswirkte.
Loisi hatte viele Freunde, denn sie war eine gesellige Frau, führte jahrzehntelang ein Wirtshaus und war bekannt dafür, dass man alles von ihr haben konnte. Doch ihre Freunde wurden weniger. Manche waren selber krank oder hatten keine Lust mehr, Loisi zu besuchen, die sie sowieso nicht mehr erkannte. Aber ihre Tochter Marlene kam regelmäßig zu Besuch. Manchmal sah ich sie weinen. Loisi kannte sie nicht mehr.
Aber Marlene kam trotzdem, setzte sich nah an ihren Rollstuhl und hielt ihre Hand, während sie den fragenden Blick der alten Frau auf sich ruhen ließ. Marlene erzählte ihr von ihren Kindern, von ihrem Hund, von ihrem Haus und ihrem Mann. Loisi schien das alles nicht zu berühren. Und Marlene erzählte trotzdem.
Und dann geschah das Weihnachtswunder:
Am Heiligabend kam Marlene mit selbst-gebackenen Vanillekipferl. Sie war früh dran, weil sie nachmittags viel Arbeit hatte. Ihre Schwiegereltern kamen zum Essen, der Baum musste noch geschmückt werden und mit den Enkelkindern wollte sie in die Kindermette gehen.
Loisis Rollstuhl stand neben dem Christbaum, den die Schwestern schon aufgeputzt hatten. Sie strich über die Äste und strahlte mehr als die elektrischen Christbaumkerzen. Als Marlene näherkam, lächelte sie sie an.
“Ist der Baum nicht schön?”, fragte Loisi und griff nach Marlenes Hand. Marlene nickte.
“Der Franzl hat ihn abgeschnitten. Gestern. Und kalt war es.“ Marlene war erstaunt, dass sie den Namen ihres Vaters nannte. Sie hielt ihr die Vanillekipferl hin. Loisi nahm eines und steckte es in den Mund.
“Er wartet schon auf mich”, sagte sie wie beiläufig und griff nach einem weiteren Keks. Marlene forschte im Gesicht ihrer Mutter und stellte fest, dass sie schon lange nicht mehr so zufrieden gewirkt hatte.
“Und sei nicht traurig, Marlene“, fügte sie hinzu.
Marlene weinte vor Freude.
Am Stefanitag weinte sie nochmal. Loisi war heimgegangen.
© Isabella Maria Kern 2021-12-10