von Lilly Frost
Manche Menschen fordern von Natur aus Abstand ein. Ich zum Beispiel. Meine Mutter erzählt immer, dass ich mich schon als Kleinkind gegen Bussis und Umarmungen gewehrt habe. Wenn ein Gewitter aufgezogen ist, habe ich mich lieber im Bett verkrochen, als mich von meinen Eltern beruhigen zu lassen.
Noch heute tue ich mir schwer mit Menschen, die mir zu nah kommen, mir buchstäblich auf den Pelz rücken. Die Ins-Gesicht-Springer und die In-den-Nacken-Schnaufer sind mir ein Graus. Es macht mich nervös, wenn jemand seine Visage meiner derart nähert, dass ich ihn/sie nur noch verschwommen sehen kann. Auch die Einkaufswagen-in-den-Hintern-Drücker finde ich ganz furchtbar. Es gibt einen gewissen Bereich, der gehört mir. Ohne Einladung mag ich da niemanden näher heranlassen. Und diese Einladung erhalten nur wenige, ausgewählte Menschen.
Wahrscheinlich fällt mir deshalb das Abstand-halten jetzt recht leicht. Ich helfe anderen mit meiner Eigenart und muss mich nur selten gegen die Aufdringlichkeit meiner Zeitgenossen wehren. Mittlerweile bin ich richtig geschickt darin geworden, in den Gängen des Supermarktes einen mehr oder weniger eleganten Bogen um andere zu machen oder beim Spazierengehen mit meinem Hund, schon von Weitem zu erkennen, bei welchem Gegenüber ich die Seite wechseln muss. Bei manchen Gassi-Runden geht es blitzschnell von links nach rechts und wieder zurück. Anfangs fand mein Hund das seltsam. Inzwischen hat er Gefallen an diesem „Spiel“ gefunden und steuert schon von selbst die gegenüberliegende Straßenseite an, wenn uns jemand entgegenkommt. Er ist quasi zu einem Abstands-Wau-Wau mutiert.
Meine Eltern sind Mitte 70 und Anfang 80. Da ist es selbstverständlich, dass mein Mann und ich den wöchentlichen Einkauf oder andere wichtige Besorgungen übernehmen. Wir wohnen in einer Siedlung mit 99 Wohnungen. Letztens beobachtete ich eine ältere Dame, die sich mit zwei prall gefüllten Einkaufstaschen abmühte. Ich bot ihr – aus sicherer Entfernung – an, die Taschen zu ihrer Wohnung zu tragen. Sie bedankte sich und stellte die Taschen ab, die ich ihr daraufhin in den zweiten Stock brachte. Die Dame strahlte. „Wissen Sie“, erklärte sie mir von ihrem Wohnungsflur aus, „ich bin alleine. Aber seit wir alle auf Abstand gehen müssen, helfen mir so viele Menschen wie nie zuvor. Ich fühle mich gar nicht mehr einsam.“
Ich lächle, denn ich weiß genau, was sie meint. Wertschätzung hat etwas mit Abstand zu tun. Mit Unaufdringlichkeit. Mit einem Angebot. Mit der Möglichkeit, selbst zu entscheiden.
Am nächsten Tag klebe ich der Frau meine Telefonnummer an die Wohnungstür. Vielleicht braucht sie ja jemanden, der Einkäufe für sie erledigt. Oder diese in den zweiten Stock bis vor die Haustür trägt. Jeder kann helfen. Dafür braucht es gar nicht viel. Nur ein bisschen Anstand, ähm Abstand. Mein Hund hat das instinktiv verstanden.
© Lilly Frost 2020-04-14