Abstieg in den Wahnsinn

Charlie Wahning

von Charlie Wahning

Story

„Jetzt, wo alle da sind, kann es ja losgehen“, sagt die Ă€ltere Dame in der ersten Reihe der Achterbahn, als diese am höchsten Punkt der ersten Etappe angekommen ist. Zugegeben, die Risiken ihrer Beteiligung an dieser Fahrt waren dir schon die letzten paar Minuten durch den Kopf gegangen. Doch dieser beilĂ€ufig klingende Satz, der so gar nicht beilĂ€ufig wirkt, als sie sich umdreht und dir mit ihren grauen Augen in die Seele starrt, verwandelt das Achterbahn-Kribbeln in deinem Bauch ganz schnell in kalte Furcht.

Du schaust zur Seite. Ist es beruhigend oder beunruhigend, dass Max genauso entsetzt nach vorne starrt?

Da macht die Achterbahn einen Satz und beginnt ihren Sturz auf den sandigen Berliner Boden zu. Du schreist. Aber das ist echt. Und die Alte hört nicht auf, dich anzustarren.

Der Wind macht alles nur schlimmer. Ihr Haarspray-Nest aus weißen Locken löst sich freudig in einem wilden Tanz um ihren Kopf, der in deinen Augen peitschenden Schlangen gleicht.

Jetzt siehst du am Gleis unter euch ein schwarzes Loch auftauchen. Der Fall ist zu lang, die Alte ist zu viel, deine Nerven wollen reißen. Dir wird schlecht. Das Loch breitet sich aus, bis es den Sand verdrĂ€ngt hat, und nur Sekundenbruchteile spĂ€ter erreicht es die erste Sitzreihe. Kurz, nachdem sie in der Dunkelheit verschwindet, bist auch du drinnen.

Alles wird schwarz. Nur ein leichter Geruch von Currywurst und Berliner Kindl ist dir vom Rummel geblieben. Du bist nicht bewusstlos – du kannst nur nichts sehen. Der Fahrtwind sagt dir, dass ihr immer noch weiter rast. Sind das Max’ Schreie, die du neben dir hörst? Der Wind ist nun so stark, dass es sich anfĂŒhlt, als wĂŒrde er dir deine eigenen Schreie zurĂŒck in den Hals stopfen. Aber Max hatte immer schon die stĂ€rkere Lunge von euch Beiden.

Gleißendes Licht ist plötzlich da, raubt dir erneut die Sicht. Du blinzelst, reibst dir deine brennenden Augen. Ihr befindet euch im freien Fall auf kristallenes Wasser zu. Vermutlich wird es euch wie Beton empfangen und dann eure Überreste verschlingen. Dieser Gedanke entlockt dir einen weiteren Schrei, der es aus deiner Kehle schafft. Jetzt hörst du auch Max’ GebrĂŒll und das PĂ€rchen hinter euch. TrĂ€nen verschleiern deine Sicht.

„Alter, geht’s noch?“ Desorientiert drehst du dich der Stimme zu. Max. „Du heulst, Mann.“ Rasch wischst du dir die heißen TrĂ€nen aus den Augen und siehst ihn an. Hinter ihm flattert in der Ferne eine komische Aufblasfigur im Wind. Du blickst dich um. Ihr befindet euch wieder da, wo die Fahrt gestartet hatte. Alle anderen sind schon ausgestiegen. Nur die alte Dame in der ersten Reihe plagt sich noch aus ihrem Sitz.

„Ohoho, wie in guten alten Zeiten“, und damit geht sie. Schaut dich nicht einmal mehr an. Ihre Haare, wild aber bewegungslos, entschwinden mit ihr aus deinem Blickfeld. Du siehst Max fest an:

„Dude, kannst du mir doch die Nummer von dem Typen geben? Das ist nicht mehr normal.“

© Charlie Wahning 2022-07-17

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