84,7 kg
Der Abführtee von gestern hat gewirkt. Ich bin 700 Gramm leichter geworden. Außerdem habe ich mich beim Essen eingehalten, mittags nur Salat und abends nichts.
War heute in der Kirche, beim Gottesdienst. Ja, ich bin gläubig. Nein, das stimmt nicht ganz. Ich glaube nicht, dass es Gott gibt, denn Glaube würde einen kleinen Zweifel zulassen. Ich bin überzeugt, dass es Gott gibt. Wie oft hat er mir schon seine Wunder gezeigt. Andere würden Zufälle dazu sagen. Aber mir ist egal, was die anderen sagen. Ich weiß, dass es Ihn gibt und basta.
Ich gehe nicht oft in die Kirche. Entweder bin ich noch oder schon zu müde oder es spielt was Interessantes im Fernsehen, oder ich bin einfach zu faul. Aber heute hatte ich das Bedürfnis.
Ich mag Kirchen, den Duft von Weihrauch, das Mystische der Vergangenheit, die Ruhe und die Monotonie des Gebets. Als junge Frau habe ich mir das Klosterleben idyllisch vorgestellt. Heute würde ich meine Vorstellung als Flucht vor den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens sehen.
Der Besuch eines Gottesdienstes gleicht einem Wettbewerb alter Frauen: Welche beginnt am schnellsten mit dem Gebet, welche singt am lautesten? Der Kirchenaufenthalt beflügelt sogar ihre müden Knochen. Das Auf- und Niederknien gelingt ohne Ächzen und Stöhnen. Die Ehrenamtlichen erkennt man gleich. Sie sitzen aufgefädelt in der ersten Reihe, aufgeputzt im Sonntagsgewand mit ernster Miene. Nacheinander verkünden sie die Fürbitten und das Wort Gottes. Dann ertönt ein Klingeln. Das Zeichen aufzustehen. Der Pfarrer bekreuzigt sich und liest aus dem Evangelium. Obwohl ich weiß, was jetzt kommt, erschrecke ich. Worte der Gewalt und Drohungen. „Von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten“. Die Mafia macht dasselbe. Das passt ja nicht zusammen: einerseits der liebende verzeihende Gott, anderseits der drohende und mobbende. Wie soll man das im Kopf zusammen kriegen? Vielleicht ist diese Zweifaltigkeit mit ein Grund, warum man in Gottes Namen Kriege führt. Wem wundert’s dann, dass die Katholiken scharenweise aus der Kirche austreten?
Nach jeder Drohung, die von der Kanzel kam, zuckte ich zusammen und bat Gott innerlich um Verzeihung. Ich musste mir dennoch alles bis zum Schluss anhören, weil ein Aberglaube besagt, wenn man den Gottesdienst früher verlässt als der Pfarrer, bringt das Unglück. Tja, das war es wieder für lange Zeit mit der Kirche.
Titelbild: Joachim-Schnurle-Waage
© Brigitte Geretschläger 2022-08-14