Nein, nicht ein, vom Stuhl reißt er mich. Umhauen tut er mich regelrecht. Ich titele nur so reißerisch, um euch in meine GuteLeseStube zu locken.
Der Titel ist für Rilke -Kenner ja keine 11er Frage. Er ist angelehnt an ein Gedicht, das mich wirklich erschüttert hat, als ich es zum ersten Mal las. Erschüttert in seiner universellen, ewigen Wahrheit. Und das schaffen nur Ausnahme-Künstler. Wenn Rilke nur dieses eine Gedicht geschrieben hätte in seinem ganzen Leben, er hätte nicht umsonst gelebt. In meinen Augen.
„Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein. Da hab ich Stein auf Stein zu mir gelegt und stand schon wie ein kleines Haus, um das sich groß der Tag bewegt, sogar allein. Nun kommt die Mutter, kommt und reißt mich ein.
Sie reißt mich ein, indem sie kommt und schaut. Sie sieht es nicht, dass einer baut. Sie geht mir mitten durch die Wand von Stein. Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.
Die Vögel fliegen leichter um mich her. Die fremden Hunde wissen: das ist der. Nur einzig meine Mutter kennt es nicht, mein langsam mehr gewordenes Gesicht.
Von ihr zu mir war nie ein warmer Wind. Sie lebt nicht dorten, wo die Lüfte sind. Sie liegt in einem hohen Herz-Verschlag und Christus kommt und wäscht sie jeden Tag.“
Boah! Ich hatte zwar nicht so eine Mutter. Doch “in Teilen” vielleicht so eine Oma. Die war Zeit ihres kurzen Lebens, sie starb mit 49, krank. Lungenkrank. Seelenkrank, sage ich, die ich 4 war als sie starb, heute mit der Lebenserfahrung einer erwachsenen Frau. Es heißt ja Herz-Lungen Maschine. Die eine kann nicht ohne die andere. Tuberkuloseverdacht. Nie bestätigt, aber lebens- und generationenbeherrschend. Flucht ins Religiöse. Könnte sein, dass Christus jeden Tag gekommen ist, um Omi zu waschen. Keine angenehme Vorstellung.
Als ich Mutti, da war ich schon weit über 40, einmal fragte, warum sie uns nie abgebusselt hat, obwohl sie doch ein so herzlicher, warmer Mensch ist, sagte sie: Wegen der Omi. Die war krank und wir durften das nicht. Also auch irgendwie “eingerissen”.
Aber ich wäre nicht ich, wenn ich nicht auch noch ein bisschen unernst würde zum Schluss. Ich möchte euch nicht in solcher Schwere entlassen in die 2022er Sommerhitze. Erst jetzt im Goldenen Herbst meines Lebens, lese ich Rilke, weil ich so elendiglich neugierig bin, weil mir der Rilke Weg in Duino so gut gefällt und weil ich diese Wahnsinns-Frauengestalten um ihn herum so spannend finde. Dass so viele Frauen seinem lyrischen Zauber erlegen sind, muss ja Gründe gehabt haben. Bei meinem Bruder hab ich nun was ausgegraben und lese da: “MÄDCHEN, Dichter sind, die von euch lernen, das zu SAGEN, was IHR einsam SEID, und sie lernen leben an euch Fernen… Keine darf sich je dem Dichter schenken, wenn sein Auge auch um Frauen bat, denn er kann euch nur als Mädchen denken…Lasst ihn einsam sein in seinem Garten…bei den Bänken, welche schattig warten, und im Zimmer, wo die Latte hing”.
Freud? Oder brauche ich nur eine neue Lesebrille? Es heißt im Original natürlich Laute. …wo die LAUTE hing.
© 2022-07-19