von Christine Riel
Ich beschreibe meine Persönlichkeit als gleichermaßen facettenreich wie das Auge einer Fliege. Jedoch zeige ich meine schillernden Facetten durch das, was ich am Leib trage. In den vergangenen fünf Jahren schlüpfte ich regelmäßig während der Sommermonate in meinen Botanik-Mantel, um mich mit Leib und Seele der Pflanzenkunde zu widmen. Diese Jahreszeit stand im Zeichen der Natur, fand doch der überwiegende Teil unter freiem Himmel in den einsamen Weiten der nordschwedischen Berge statt. Wechselkleidung hatte ich immer dabei, was im Hinblick auf die rauen Witterungsbedingungen sinnvoll erschien. So zog ich mir gelegentlich die Fotografie-Jacke an, um eines meiner Hobbys nachzugehen. Waren die Bedürfnisse befriedigt, entspannte ich am Abend im Blogging-Schlafanzug und sortierte die Gedankenflut auf einem virtuellen Blatt Papier.
Die Herbstmonate standen ganz im Zeichen des Aufbruchs. Ich hüllte mich in mein Abenteuer-Kleid und genoss eine Auszeit vom arbeitsintensiven Sommer. Im Wohnmobil verwandelte ich mich in ein freiheitsliebendes ‚Vanlife Girl‘, um das Leben unbeschwert und ohne Verpflichtungen zu genießen. In den dunklen Wintermonaten fühlte ich mich dagegen im Copywriting-Pulli wohl, wobei ich diesen in besonders ‚heißen‘ Zeiten gerne auszog und stattdessen mein Design-Shirt präsentierte. Die klirrenden Außentemperaturen in meinem schwedischen Zuhause zwangen mich zu einem Leben in häuslicher Geborgenheit. An manchen Tagen verspürte ich fast stündlich den Drang zum Kleidungswechsel, um der Eintönigkeit zu entkommen und mehr Farbe ins Spiel zu bringen.
Oft wusste ich nicht mehr, wohin mit all den Kleidungsstücken. Unzählige Male stieg ich in die Achterbahn und ließ mich unkontrolliert herumschleudern. Ich fragte mich, ob ich besser ausmisten soll und ob es erstrebenswert sei, ein Lieblingsoutfit zu wählen und den Rest zu spenden. Kleider machen ja bekanntlich Leute und ich kann wählen, wer ich bin – oder nicht? Heute konzentriere ich meinen geistigen Blick mit erweiterter Perspektive auf den Schrank. Ich sehe das Potpourri durch all meine Erkenntnisse nach fünf Jahren Auswanderung und Selbstfindung mit völlig anderen Augen, als es noch vor einem Jahr der Fall war.
Ich bin nicht die Gewandungsdiversität, die sich in meinem Kleiderschrank präsentiert. Ein Streben nach dem Lieblingsoutfit gleicht dem Nacheifern einer Rolle, in der ich etwas leiste. Lege ich alle Gewänder ab, kommt eine pure Frau zum Vorschein, die sich mit Sinnlichkeit dem Leben hingibt und ihre Leidenschaft im tiefgründigen Philosophieren und in der kreativen Selbstentfaltung auslebt. Meine Stärken und Talente sind das, was nur noch eine Hülle benötigt: das luftig leichte Sommerkleid der Weiblichkeit. Ich bin eine Frau, die ihren inneren Facettenreichtum durch Rollenspiele und Kleidungswechsel ausgelebt hat. Heute streife ich mir diese Rollen bewusst vom Leib, denn dann muss ich nichts mehr leisten. Dann darf ich authentisch ich sein.
Ich bin Leichtigkeit.
© Christine Riel 2023-05-10