Adam & Greti. Charlottenburg

Jane Steinbrecher

von Jane Steinbrecher

Story

„Was gibt es Neues, Sohn? Was macht die Arbeit?“ „Gab ne Beschwerde über mich. Von ner Kollegin. Ich hab gesagt, dass sie hübsch ist.“ „Du darfst dir nicht alles gefallen lassen. Bieg da vorn ab. Vor dir ist ein Diplomat. Die fahren wie Säue.“ „Gibt es in Kreuzberg nicht auch Wimpernverlängerungen? Warum musst du nach Westberlin?“ „Weil ich zu den Besten gehe. Die nehmen sibirisches Nerzhaar. Wenn du in meinem Alter bist, bist du dankbar, wenn deine Freundin sich Mühe für dich gibt. Was ist mit deiner hübschen Nachbarin?“ „Nichts. Hat nen Freund, der sie anschreit. Du hast doch keinen Freund.“ „Deshalb darf ich als alte Frau nicht mehr gut aussehen? Bieg da wieder zurück. Hast du der Kollegin von deinem Autismus erzählt?“ „Nein.“ „Du musst den Frauen davon erzählen. Ehrlichkeit währt am längsten. Da vorn links.“ „Ich sehe das Navi.“ „Die fahren wie Säue hier.“ „Weil du unbedingt nach Westberlin musst.“ „Du musst mit deinem Autismus offen umgehen.“ „Ich entscheide selbst, wem ich davon erzähle.“ „Die Leute verurteilen dich erst Recht, wenn sie nichts wissen. Sie verstehen nicht, warum du sagst, was du sagst.“ „Ich bin nur ehrlich.“ „Du hast kein Gespür für soziale Normen. Die hatte dein Vater auch nicht.“ „Dann liegt‘s vielleicht nicht an meinem Autismus.“ „Mach dich nicht lächerlich. Rot.“ „Seh ich selbst.“ „Natürlich ist es dein Autismus. Du musst dich nicht schämen. Nur ehrlich sein. Sonst findest du nie eine nette Freundin. Fahr.“ „Ich sehe es.“ „Es war nie leicht mit dir, Adam. Allein mit dir, das war schwer für mich.“ „Papa hätte mich gern genommen.“ „Ach. Das hätte er doch gar nicht geschafft. Als Mann. Er hätte dich verkorkst. Völlig verkorkst. Möchtest du ein Lakritz?“ „Ich hasse Lakritz.“ „Wie die Meisten. Deshalb habe ich immer Lakritz dabei. Dann sind die Leute nicht so gierig. Nicht durch Mitte!“ „Ich fahr nicht durch Mitte.“ „Du musst dem Navi folgen, Adam. Richtung Lietzensee.“ „Ich folge dem Navi.“ „Wie geht es dir sonst?“

Adam schwieg eine Weile.

„Gut. Ich mach vielleicht nen Kurs.“ „Was für einen Kurs?“ „Wie man Frauen kennenlernt. Was man sagen soll. Und nicht sagen soll.“ „Du musst ihnen von deinem Autismus erzählen. Sonst wissen sie nicht, dass du die Regeln nicht verstehst.“ „Ich bin mehr als mein Autismus.“ „Natürlich. Aber du musst es ihnen trotzdem sagen. Und lass dir nicht immer alles gefallen, nur weil eine hübsch ist. Bieg hier ein, Witzlebenstraße. Wo der Currypieker läuft, der wie eine Frau aussieht. Da ist der Salon. Edel, was?“

Zum Abschied küsste Greti ihren Sohn auf die Wange. „Such dir eine nette Freundin.“ Als der Wagen ihres Sohnes um die Ecke bog, ging sie nach Norden bis zum Sophie-Charlotte-Platz, von wo aus sie noch zwei Stationen mit der U2 zum Theodor-Heuss-Platz fuhr. Private Wimpernverlängerungen in Wohnungen an lauten Hauptstadtstraßen kosteten nur die Hälfte der Salonpreise. Kim Beauty stand auf dem Klingelschild. Sie zog ihren Lippenstift nach, das Lakritz aus der Tasche und klingelte.

© Jane Steinbrecher 2021-06-17

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