von Steffi_C
Der nervige Peter war also ein verkanntes ADHS-Kind, weil es das in den 80ern noch nicht wirklich gab. Vielleicht in den coolen Metropolen aber nicht bei uns auf dem Land. Da waren Kinder wie Peter eben die besonders anstrengenden Störenfriede, die die Lehrer an den Rand des Wahnsinns trieben.
Peter war nun nach wenigen Monaten schon wieder raus aus der 1. Klasse und ich wollte nicht, dass mir das Gleiche passiert. Also riss ich mich zusammen und probierte meinen Redeschwall einzudämmen, was oft nicht klappte. Glücklicherweise blieb mir der Zappeldrang erspart und so konnte ich den Zoo der brüllenden Affen und quiekenden Schweinen in meinem Kopf ganz gut verbergen. Ich tat alles dafür, nicht aufzufallen und keinen merken zu lassen, dass ich gefühlt alles hörte, sah und roch, was in einem Raum vor sich ging. Ich spürte förmlich, wenn Daniel und Pascal in der letzten Reihe quasselten, sah immer, wer wem heimlich Briefchen untern Tisch zuschob, und roch jeden einzelnen Belag der mitgebrachten Pausenbrote. Warum in aller Welt gibt man seinem Kind ein Leberwurstbrot mit in die Schule, das bis zur 10-Uhr-Pause im Schulranzen vor sich hinmüffelt? All diese Eindrücke waren wie Stecknadeln, mit denen mir jemand ins Hirn pikste. Doch ich lernte, damit umzugehen, sie zwar nicht auszublenden, aber mit anderen Dingen zu überlagern. Ich eignete mir Copingstrategien an, ohne es zu wissen. So überlebte ich die Unterrichtsstunden mit 30 anderen Kindern in einem Raum.
Was weniger gut klappte, war das Interesse an Dingen zu wecken, die mich einfach nicht interessierten. Ich gab neuen Fächern, neuen Themen und auch neuen Hobbys eine Chance, doch wenn sich nicht in kürzester Zeit eine Euphorie oder Erfolgserlebnisse einstellten, war es das. Dann rückte alles in den „Hypofokus“ als würde sich ein Loch in der Erde auftun, worin ich das Thema wie eine unliebsame Leiche entsorgte. Keine Chance, dass etwas in meinem Hirn andocken konnte, wenn es nicht auf Interesse bei mir stieß. So kam es, dass ich von einem Hobby zum nächsten sprang, die besten Freundinnen alle paar Wochen wechselte und auch einige Schulfächer dafür sorgten, dass ich Gefahr lief, sitzenzubleiben.
Ich wurstelte mich durch – irgendwie – und es klappte auch – irgendwie. Allerdings war es nicht der Weg geradeaus, den ich nahm, es war nicht in einem Moment einfach oder mühelos und oft folgte ich dem Motto „no risk, no fun“. Ich bekam den Ruf als Springinsfeld, als Chaosqueen und als jemand, der ständig seine Meinung ändert und nie zu seinen Entscheidungen steht. Doch ich war stolz darauf, anders zu sein. Immerhin war ich die Pippi Langstrumpf unseres gähnend langweiligen Dorfs. Auch wenn ich die Schulzeit halbwegs überstanden hatte, es sollte erst nach der Schule so richtig kompliziert für mich werden …
© Steffi_C 2022-10-23