von Günther Stark
Anfang Dezember ist Hemingway mit dem Grafen Carlo Kechler zum Entenschießen und befindet sich tags darauf in einem Jagdgebiet südlich Latisana im niederen Tagliamento. Das einzige anwesende weibliche Wesen an diesem regnichten Samstag ist Adriana Ivancich. Sie war vordem noch nie auf einer Jagd und ist danach müde, durchnässt und etwas lädiert von den Spuren, die die leeren Patronenhülsen ihrer Flinte auf ihrer Stirn hinterließen.
Während die Jagdgesellschaft sich mit Whisky volllaufen lässt und die Abenteuer des Tages bespricht, trocknet Adriana ihr Haar vor einem offenen Feuer in der Küche, strahlend in ihrer Jugend und weitausschreitenden Schönheit.
Sie braucht einen Kamm, um es glatt zu bekommen. Ernest spricht ihr freundlich zu: Es tue ihm leid, sagt er, dass sie das einzige Mädchen hier sei. Sie ist angenehm berührt von seinem spontanen Mitgefühl und wie eilfertig er, als er sie nach einem Kamm verlangen hört, gleich seinen eigenen in zwei Teile zerbricht und ihr die Hälfte davon gibt … –
Ernest spricht ihr freundlich zu? Aufgepasst! Gab es je ein hübsches Mädchen, dem Ernest nicht, sobald er Gelegenheit dazu fand, freundlich zugesprochen hätte?
Sie ist angenehm berührt von seinem spontanen Mitgefühl? Vorsicht! Gab es je ein hübsches Mädchen, mit dem Ernest nicht, kaum dass er Gelegenheit dazu hatte, sein spontanes Mitgefühl gezeigt hätte?
Obacht: Wieso und warum ist er überhaupt bei ihr in der Küche vor einem offenen Feuer, wenn die übrige Gesellschaft abseits davon plaudert? Genügen ihm die Abenteuer des Tages noch nicht? Muss er die Jagd unbedingt auch noch in die Nacht hinein fortsetzen und nach so jungfräulichem Wild pirschen? Will er Adriana durch seine Gegenwart die Einsamkeit etwas überzuckern?
Weiß er nicht, dass es einem fünfzigjährigen verheirateten Mann nicht guttun kann, mit einem hübschen Mädchen allein in der Küche vor einem offenen Feuer zu turteln? Er jedenfalls würde, denkt Henri, seine Tochter – wenn er eine hätte – nicht so ohne weiteres mit Hemingway allein in einer Küche vor offenem Feuer lassen!
Die Maid ist angenehm berührt von seinem spontanen Mitgefühl und der Zärtlichkeit des Jägers? Zerbricht anstandslos seinen Kamm in zwei Teile?? (Zwei Fragezeichen!) So? Was macht Hemingway da? Henri jedenfalls hätte ihm, wenn es seine Tochter gewesen wäre, die zerbrochene Hälfte gleich wieder mit Kompliment zurückerstattet! Sie hat aber, wie sich herausstellt, keinen Vater mehr.
Hätte es vielleicht nicht genügt, seinen Kamm ungeschoren zu lassen und ihn ihr nur kurz in seiner ganzen Gänze und Unversehrtheit zu leihen? Muss er in rabiater Männlichkeit gleich sein Eigentum schänden? Muss er ihr gleich ein persönliches Erbe überlassen?
Weiß er nicht, dass solch ein symbolträchtiger Akt – wie ein Ritter, der ohne Furcht und Tadel eine Lanze für sie bricht – auf die junge Frau einen unauslöschlichen Eindruck machen muss, dem sie beide nicht mehr so leicht entrinnen?
(Weiter mit ‚Adriana – 2‘.)
© Günther Stark 2021-02-14