Agapi mou!

Anatolie

von Anatolie

Story

Die Stimmung im „neuen“ Büro erinnert Bella an ein altes Gefühl, so wie sie es damals in irgend einer Halle, in irgend einem Stadtteil von Athen, empfunden hat. Zu einer Zeit vor vielen Jahren, als sie auf Praktikum im Ausland war. Stickig hing die Luft über den Dächern. Auf breiten Arbeitsflächen stapelten sich stoßweise Ikonenbilder. Emsig wurden sie aus den Verpackungen geschält und von letzten Schmutz- und Kleberesten befreit. Gleißende Sonnenstrahlen fielen durch die schräggestellten Jalousien, sie zeichneten Licht- und Schattenstreifen in den Raum. Die so entstandenen Querlinien ließen Bella an das hübsche Muster eines Zebras denken. „Was guckst du so?“, fragte die Kollegin in ihre Tagträume hinein. Aber nicht Bella war gemeint, sondern die andere Aushilfe, welche den gegenüberliegenden Balkon im Blickfeld hatte. „Schaust du wieder nach deinem ‚Agapi sou‘?“ Drüben stand, an die Balkonbrüstung angelehnt, ein Greis. Er war noch in seinen Schlafgewändern und starrte mit monotonem Blick ins Leere. „So einen Mann müsste man heiraten!“, grinste die Kollegin. „Alt genug wäre er schon für seine letzten Erdentage. Hinterher erbe ich sein Haus und die Rente dazu. Diesen Scheißjob brauche ich dann jedenfalls nimmermehr.“ Die zwei jungen Hühner kicherten und stupsten sich gegenseitig an.

Agapi oder Agapi mou, so sagen die Leute in Griechenland zu der oder dem Herzallerliebsten. Diese Koseform wird dort ähnlich oft verwendet wie bei uns das Wort ‚Schatzi‘.

Wir steigen nun in eine Zeitreisekapsel, verlassen die griechische Metropole unter der brütenden Sommerhitze, landen gute zwanzig Jahre später in einer ebenso Smog-geplagten Stadt, 1260 Kilometer Luftlinie weiter im Nordwesten. Es ist das letzte Juliwochenende im Jahr 2021. Der Abend riecht nach Aufbruch und nach Sommer. An Rolfs Seite schreitet Bella ihrem vorläufig letzten Feierabend entgegen. Die Tür dieses Gebäudes schließt sich hinter ihr zum letzten Mal. Schon übermorgen wird ihr Urlaubsflieger auf Rhodos landen. Sie begleitet Rolf noch bis zum Wagen. „Wow – du hast ja einen richtig coolen Schlitten!“ Am liebsten wäre sie mit eingestiegen, auf eine kleine Spritztour, egal wohin. Das Gedachte bleibt natürlich ungesagt. Sie wünschen sich etwas umständlich eine schöne Zeit und danach gehen beide nach Hause zu ihren „Schatzis“.

Und nun, drei Wochen später, sitzt sie in diesem dunklen Raum, im Block gegenüber. Es wird wieder eifrig telefoniert und in die Tasten geklopft. Anders als früher blickt sie jetzt einen Luftschacht an, die Aussicht wird von tristen Hausmauern verschluckt. Der Putz ist voller schmuddeliger Streifen. Mit ein bisschen Fantasie könnte aus der einen oder anderen Linie eine Strichmännchen-Figur entstehen.

„Hey!“ Erschrocken dreht sie sich um. Hinter ihr steht kein Fantasiegebilde, sondern eine wahrhaft lebendige Gestalt aus Fleisch und Blut, strahlend wie ein Weihnachtsmann und mit Sprühkerzen in den Augen, umgeben von imaginärem Lametta und Bling Bling! Na so etwas auch – Agapi mou 💕 – so ein herzlicher Empfang an einem nüchtern-grauen Arbeitsmorgen nach der Urlaubspause! Sie schenkt ihm ein bezauberndes Lächeln zurück.


© Anatolie 2021-09-25

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich, Emotional, Inspirierend
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