von Weudl
Liebes Tagebuch,
Ich stehe nun am Abgrund. Blicke hinab und lasse mich in die vertraute Leere fallen. Während ich mit einem Lächeln hinabstürze, fährt mein Leben in Form eines Pickups an mir vorbei. Jeder Steinschlag löst blitzartig einen Flashback aus und so sehe ich sie alle wieder. Meinen Vater, der am Boden liegt, meine flehende Mutter, mein tapferer Bruder und…
…dann prallt mein Körper auf den harten Beton. Wieder einmal bin ich wie gelähmt. Menschen versammeln sich um mich, während ich langsam bewusstlos werde. Plötzlich blicke ich in ihre Augen. Sani, Adanna und Nilaja sind zu mir gekommen. Sie kauern sich um mich, wie damals in unserem Haus. Dann gleite ich fort und sehe aus der Ferne die Lache aus Blut, in der ich meine beiden Schwestern zurückgelassen habe. Nilaja winkt mir zu und grinst so frisch und unbekümmert. Dann wird sie an den Haaren gepackt und verschwindet aus meinem Leben.
Mein Leben, mein Verstand und mein Körper wurden an den Bestbieter verkauft und ich vom Teufel neu getauft. Der Tod klebt von dann an, an meinen Händen und wo ich bin, tropft das Blut von den Wänden. Empathielos wandle ich durch das Land. Bin ein Bruchstück, ein Sandkorn am Rand. Die Gesellschaft hat mich längst vergessen. Vergessen werden Kinder, wie ich, wegen Interessen. Interessen bemessen anhand von Reichtümern, die Reiche noch reicher machen. Doch nehmen sie den Kindern ihr Leben, ihr Lachen.
Mit 5 Jahren wurde mir meine Kindheit, mein Lachen genommen. Man raubte mir mein unschuldiges Herz. Man ermordete meine Familie und übrig blieb nur ein unfühlbarer Schmerz. Ein Schmerz, den ich nicht fühlen kann. So wenig wie das Zischen der Haut, wenn sie verbrennt, well done. Well done und einen Applaus für den Manager, bitte. Neben den Waffenlieferungen, den Drogen und dem Menschenhandel verdankt das Land ihm, den Umbruch, den Wandel. Durch sein Werk, seinen Tatendrang, die Macht und die Gier seziert man uns bis auf die letzten Knochen. An ihren Händen klebt das Blut von zerstörten Generationen. Doch während sich der Wohlstand im Reichtum badet, er dem Fußvolk nur weiter schadet, sind wir nur Opfer ohne Gesichter und Namen. Wir sind wertlos, wie ein Bild ohne Rahmen.
Doch all meine Fantasien bleiben wirkungslose Träumereien eines kleinen Jungen. Das Nikotin klebt an seinen Lungen, der Schnaps lenkt seinen ziellosen Verstand und er steckt sich und die ganze Bande in Brand. Keine Wut und kein Hass treiben mich an, nur diese endlose Leere zieht mich in seinen Bann.
Ich sitze vor unserem Haus, im Schatten eines Baumes und spiele, lache und träume mit Nilaja. Für mich sind sie alles, mein ganzer Besitz. Ich schließe meine Augen und lasse alle Eindrücke auf mich wirken. Ich atme ein letztes Mal aus.
Auch jedes -rahmenlose Bild verdient seinen Namen.
© Weudl 2023-01-22