Aktenleichen

Daniela Neuwirth

von Daniela Neuwirth

Story

„Tja, es sah so harmlos aus“, lacht sie Anwalt X an. Das Band war dann doch kein kurzer Brief, sondern eine vielseitige Klage an eines der Gerichte Schleswig-Holsteins, dass damit beschäftigt ist, Entscheidungen zu treffen, wo sich zwei Parteien selbst nicht einig werden können oder einer der beiden einen Schaden erlitten hat, dessen Bewertung in Entschädigungsleistung auch nur möglich ist, wenn es Rechtskundige berechnen.

Da sie nicht mehr auf die Länge der Bänder beim automatisierten Zurückspulen achtet, ist sie von der Länge überrascht. Diktiert wird aus dem geschulten Geist, wo sich die zahlreichen Paragrafen in den Schubladen der angeeigneten Kenntnisse befinden. Das Grundgerüst ist überschaubar, doch was, wenn etwas Wichtiges übersehen oder vergessen wird.

„Wie viele Paragrafen gibt es eigentlich?“, fragt sie den Kollegen, als sie bei §585 BGB ankommt. Er weiß das auch nicht, aber Google schon: „2009 gab es 1.924 Gesetze und 3.440 Verordnungen in Deutschland mit insgesamt 76.382 Artikeln und Paragrafen.“

Sie tippt weiter, routiniert inzwischen – nach eineinhalb Vollzeitmonaten geht es schneller von der Hand. Heute lenkt sie aber die Sonne derart ab, dass sie vor lauter Vorfreude auf Schönwetter eine Akte nach der anderen auf den Altpapierstapel, der aufs Schreddern eine Etage tiefer im Regal wartet, stapelt. „Man kann es noch gar nicht glauben, dass wir bald wieder ins Kino oder zum Bowling können, oder?“, kann sie ihre aufkommende Lebenslust nicht zurückhalten.

„Das mit Bowling wird wohl nichts“, meint der Kollege, weil diese die Pandemie nicht überstanden haben und angeblich schon die Räumlichkeiten ausgeräumt und umgebaut werden. „Was? Nein! Was soll man sonst hier abends machen?“ Sie ist vom Hocker. Mit Freitag-Abend-Schwarzlicht und lauter Musik war es dort richtig gute Stimmung, wo dann zwei Stunden an der Bowlingbahn meist nicht ausreichten. „Und wo feiern wir dann unsere Geburtstage?“

Als Anwalt X hinter ihr vorbeigeht, fällt ihr erst auf, dass nichts im Fach liegt, obwohl sie schon eine Stunde am Schreiben ist. „Hmm?“ Sie guckt runter. „Ah, hier seit ihr gelandet.“ Sie hebt die Akten vom Schredderstapel schnell in die richtige Position, noch unbemerkt. Während er die schweren Registerladen raus- und mit einem “Rumms“ wieder reinschiebt, erinnert sie sich an die Pathologie-Szene aus „Baywatch“, wo Dwayne Johnson und Zac Affron sich in den Leichenladen verstecken und von oben die Flüssigkeit der richtigen Leiche in deren Gesichter tropft.

„Das wäre doch was, wenn das hier solche Pathologie-Kühlladen wären… für die Aktenleichen.“ Sie verbessert BRAVO auf BRAO und hört, wie sich der Kollege bei Anwalt X verabschiedet und meint, dass sie sich am nächsten Tag in „alter Frische“ wiedersehen. „In alter Frische?“, wiederholt sie. „Widerspricht sich das nicht?“ Dr. Wats überlegt, ist aber eigentlich schon bei der Tür draußen, deshalb ist es ihm egal, ob alt und frisch oder frisch und alt.

© Daniela Neuwirth 2021-03-27

Hashtags