All meine neun Leben

Evelyn Weidner

von Evelyn Weidner

Story

Als ich ein kleiner Junge war, glaubte ich fest daran, dass Katzen neun Leben haben. Natürlich stellte ich es mir nicht wie in einem Videospiel vor. Wahrscheinlich sah ich das als Reinkarnation, und dass nur Katzen das taten. Und das neunmal. Ich hatte nie Haustiere, doch einen Kater habe ich mir schon immer gewünscht. Damit er lange mit mir leben konnte. Jedes Mal würde er zu mir zurückkehren, in einem neuen Fell. Ich weiß nicht, wann ich aufgehört habe an dieses Wunder zu glauben. Vielleicht glaube ich heimlich noch immer daran.

Sie war immer noch da. Ich schloss meine Augen, nur um sie wieder zu öffnen und Milene vor mir sitzend zu sehen.

„Ich verstehe nicht“

„Keiner kann mich sehen, Martin. Und wenn du bei mir bist, kann dich auch keiner sehen. Als ich dich aufschauen gesehen habe, beim Bahnhof, wusste ich, dass du es bist. Du hast mich gehört. Du kannst mich sehen. Und du kannst mich sogar spüren“, ohne zu zögern, legte sie ihre kalte Handfläche auf meine Wange und ich schloss meine Augen bei der Berührung.

„Und ich spüre nur dich“, als ihr Blick von ihrer eigenen Hand zu meinen Augen fiel, erstarrte sie kurz, bevor sie ihre Hand beschämt wieder zu sich ziehen wollte. Doch ich ergriff sanft ihr Handgelenk und lies ihre Hand noch kurz an meinem Gesicht.

„Milene, ich verstehe immer noch nicht. Bist du in meinem Kopf, oder-„

„Du liest so viel, ich hätte gedacht, du bist etwas schlauer. Martin, du wirst zu Luft, wenn du bei mir bist. Es hört uns keiner!“

Ich erschrak und blicke mich um und suchte nach Reaktionen. Gar nichts.

„Ich bin doch gesprungen“, ich stand auf und ergriff meine Jacke von der gegenüberliegenden Bank. Milene folgte mir, doch ich ignorierte ihre Schritte hinter mir und lief durch den Gang.

„Entschuldigung, wann ist der nächste Halt?“, eine Frau in derselben Uniform, wie die Fahrkontrolle kam mir entgegen doch hielt nicht an.

„Entschuldigung?“, sie sah mich an, doch antwortete nicht. Ich hielt an und spürte wie Milene in mich lief, doch die Frau lief direkt durch mich hindurch. Ein kalter Schrei entkam Milene und ich wusste warum. Als würden hunderte Messer in dich stechen fühlte es sich an. Für den kurzen Zeitraum in welchem mein Körper sich wie Nebel von meiner Seele trennte.

Ich drehte mich zu Milene um und half ihr auf, denn sie ließ sich vor Schmerz auf die Knie fallen.

„Milene bin ich tot? Was geschieht hier?

„Martin du bist nicht tot, ich bin es“

Lieber Leser jetzt weißt du es. Sie war tot. Und ich wünschte mir so sehr, dass sie wie eine Katze neun Leben hätte. Ich hätte ihr all meine neun Leben gegeben, wenn ich könnte.

© Evelyn Weidner 2024-02-13

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional