von Sonja M. Winkler
Dieser Tage lege ich eine Patience nach der anderen. Dieses Geduldsspiel ist etwas, das meine Aufmerksamkeit wenigstens für eine Viertelstunde bindet, mich ablenkt. Die letzte Karte ist noch nicht ausgespielt. Wenn die Königspatience nicht aufgeht, wähle ich die Bildergalerie. Dann die Große Harfe.
Harfenklänge beruhigen mich. Ich krame in meinen CDs und wähle Monika Stadler. Virtuos, wie sie das Instrument beherrscht. Während ihre Finger über die Saiten tanzen, tanzen meine jetzt über die Tastatur.
Es ist noch früh am Morgen. Ich hatte eine unruhige Nacht. Um 7 Uhr hinterließ ich der Zahnärztin, bei der ich mich in guten Händen weiß, eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Mein Körper ist zu geschwächt, um den Kampf gegen die Bakterien zu gewinnen, die noch immer bei den zwei Backenzähnen im Oberkiefer am Werk sind. Statt der homöopathischen Mittel sind jetzt Antibiotika angesagt.
Ich befolge alle Ratschläge. Ich habe Interdentalbürstchen in sämtlichen Stärken und Farben auf der Ablage im Bad liegen. Nach dem Zähneputzen träufle ich H2O2 in die bewussten Zahnzwischenräume. Wasserstoffperoxid desinfiziert Wunden. Angeblich blondiert es auch die Haare.
Seit einem halben Jahr lebe ich reduziert. Ich habe Pläne und Vorhaben abgesagt. Cancelled everything. Lateinisch cancellī sind Gitterlinien. Mittels Gitterlinien schriftlich Fixiertes ausstreichen, cancellare. Ich habe also meine ursprünglichen Kalendereinträge für null und nichtig erklärt und lebe von einem Tag auf den anderen, von Zahnarzttermin zu Zahnarzttermin.
Gitterlinien. Die Aufmerksamkeit sitzt hinter Gittern. Die Mundhöhle ist ihr Gefängnis, seit einem halben Jahr. Aber ich will nicht jammern. Denn ein bisschen Freiheit gibt es doch. Hin und wieder locke ich die Aufmerksamkeit aus der Mundhöhle heraus und bewege sie zu einem Rundgang im Freien. Komm, sag‘ ich, stapfen wir durchs raschelnde Laub. Und wir vergessen für Momente, dass unser Bewegungsradius eingeschränkt ist, dass wir Urlaubspläne haben fahren lassen müssen, dass aus ausgedehnten Wanderungen kürzere Spaziergänge geworden sind. Sie entgeht uns jedoch nicht, die Farbenpracht des Herbstes. Wir bemerken, dass sich der Nebel immer wieder lichtet und die Sonne durchkommt. In einigen Wochen werden die Bäume kahl sein. Und irgendwann wird die Aufmerksamkeit ihre Strafe abgesessen haben.
„Coming and going“ heißt der Track Nummer 12. Ebbe und Flut. Das Pochen im Zahnfleisch kommt wie Ebbe und Flut. Dann überschwemmen mich Ängste. Und mein Herz rast.
Das Handy läutet. Die Assistentin hat meine Nachricht abgehört. Ich werde heute Mittag eingeschoben.
Die Karten werden neu gemischt. Ich lege noch eine Patience.
© Sonja M. Winkler 2021-11-03