Alles Heidi oder was

JanGroenhain

von JanGroenhain

Story
Maienfeld 2020

Es war Spätwinter und ich hatte beruflich in der Ostschweiz zu tun. Meine dort ansässigen Kollegen hatten mir vorab ein Zimmer reserviert. Es wäre ein gutes Business-Hotel, Nähe Autobahn, wurde mir ausgerichtet. Als ich gegen Abend mit dem PKW eintraf, folgte ich mangels Ortskenntnis dem Navi. Es lotste mich durch das Städtchen Maienfeld etwa zwei Kilometer den Berg hinauf. Ich zweifelte sehr, die Stimme jedoch nicht. „Sie haben ihr Ziel erreicht“, erklärte sie selbstbewusst vor einem markanten Gebäude. Davor ein großer Parkplatz mit gerade mal einem Auto. Ist das ein Business-Hotel nach Schweizer Definition?

Der Kellner in der Gaststube, gleichzeitig Portier, begrüßte mich freundlich mit Namen. Auf meinen fragenden Blick hin meinte er: „Sie sind der einzige Gast heute. Aber morgen kommt noch einer. Sie bekommen jedenfalls das beste Zimmer“. Er führte mich über eine schmale Holztreppe nach oben. „Das ist das Heidi-Zimmer“, verkündete er stolz. Die Tür knarzte. Nach leichtem Bücken und einer Stufe nach unten eröffnete sich ein nicht gerade üppiges Zimmer. Aber für zwei Nächte gut genug. Später in der Gaststube waren doch einige Tische besetzt. Alles Einheimische, um ihr Feierabendbier zu trinken oder zum Nachtessen. Also doch nicht ganz allein. Die Speisekarte offerierte mir sodann einschlägiges: Heidi Salat, Peter Pastetli, Heidi Plättli, Geißen Peter Schnitzel oder Alp Öhi Rösti. Das war mir nicht ganz geheuer. Ich entschied mich deshalb für Bündner Pizokel. Am Ende der Speisekarte fand sich dann endlich eine Kurzfassung der Heidi-Geschichte nach Johanna Spyri. Jetzt fiel der Groschen, oder der Rappen.

Ich muss zugeben, dass diese Heidi nicht Teil der Literaturliste meiner Kindheit war. Sie blieb mir damals gänzlich verborgen. Bei meinen eigenen Kindern ist sie zwar literarisch erschienen, auf die Shortlist hatte sie es aber auch nicht geschafft. Aber ungefähr war mir die Geschichte natürlich bekannt, nicht jedoch deren lokale Weltkulturbedeutung. Ich war hier also im Epizentrum der Heidiwelt gelandet. Neben meinem Heidizimmer gab es natürlich auch eines für den Geißenpeter, den Alp-Öhi und die Klara. Meines strahlte den modernen Charme der 1960er Jahre aus, im Bad mit zeitgemäß gelbem Plastik-Duschvorhang. Beeindruckend waren jedoch die zahlreichen Heidi-Bilder an der Wand, mit Blick in die Berge bzw. direkt zu mir. Egal von welcher Seite, die Heidi beobachtete mich unentwegt, als wollte sie mir was sagen. Aber was nur? Vor dem Einschlafen wie auch am Morgen, als ich ob der durchhängenden Matratze früh erwachte, stand ich unter Beobachtung.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass ich zum Frühstück Heidi Kaffee aus der Heidi Tasse trank. Der freundliche Portier wünschte mir einen schönen Tag und wollte mir den Weg zum Heidi-Wanderweg zeigen. Denn die Chinesen und Japaner, die im Sommer hier in Scharen auftraten, mochten den sehr gerne. Er war verwundert als ich dankend ablehnte und etwas von „Geschäftstermin“ murmelte.

Bei meinen Kollegen bedankte ich mich später betont freundlich für die gelungene Lektion Heidi intensiv. Da wurden sie etwas blass. Des Rätsels Lösung: Ihre neue Assistentin hatte beim Zuruf „reserviere doch ein Zimmer bei der Heidi“ den Heidihof am Berg genommen anstelle des Heidihotels im Ort.

© JanGroenhain 2020-06-25

Genres
Reise
Stimmung
Abenteuerlich, Komisch, Reflektierend
Hashtags