Es war Klara unangenehm, als ihre Mutter sie sanft über den Kopf streichelte. Das hatte die inzwischen alt gewordene Frau nun schon sicherlich zwanzig Jahre nicht mehr getan. Zugleich hatte Klara auch schon zwanzig Jahre nicht mehr heulend vor ihrer Mutter gesessen. Alles nur wegen Jens.
„Es macht keinen Sinn, weiter mit ihm zu reden, wenn Dialog keine Option ist“. Klaras Mutter flüsterte fast und Klara fiel es schwer, die Worte zu verstehen. Sie schluchzte.
Mit Jens hatte sie eine Zukunft. Nicht irgendeine Zukunft. Die beste aller Zukünfte, die es je gab. Voller Elan und Vitalität waren sie vor zwölf Jahren aufgebrochen, hatten schneller geheiratet, als ein Rennpferd die Ziellinie erreicht und auch die Kinder ließen nicht lange auf sich warten. Haus gebaut, Garten bepflanzt und zwischendurch die Welt bereist. Mehr als 10.000 Fotos bezeugen all dies. Jens war Klaras Schlüssel zum Paradies.
Und nun war er abgebrochen. Wertlos. Jens war fort.
Drei Tage war es her. Sie war nach der Arbeit nach Hause gekommen und schon im Eingangsbereich wirkte alles seltsam leer. Erst später verstand sie, warum. Seine Schuhe und Jacken lagen nicht an den üblichen Plätzen. Jens hatte all seine Sachen mitgenommen. Nur einen Zettel fand sie, handgeschrieben, in seiner wie üblich schwer entzifferbaren Klaue. Sie solle nicht fragen, ihn nicht suchen, er melde sich. Er brauche eine Auszeit. Er habe eine andere Frau. Er suche ein anderes Leben. Alles zu eng. Keine Luft.
Klara verstand nicht, was er da geschrieben hatte. Nur, dass er weg war. Dabei verband sie beide eine gemeinsame Geschichte. „Nimm uns unsere Vergangenheit nicht weg“, schrie sie in den Himmel, als könnten die Wolken ihre Worte direkt zu Jens tragen. „Unsere Geschichte gehört uns. Du kannst sie nicht mit einer anderen Frau fortsetzen.“
Wieder streichelte ihre Mutter ihr über das Haar. Klara fühlte sich teigschlapp und sehr sehr müde. Ihre Mutter schaute sie mit leicht geneigtem Kopf an. Beide weinten.
© Holger Alfred Ludwig Faß 2022-10-08