von Florian Beier
Ich stehe am Meer. Oder zumindest da, wo ich das Meer erwartet habe. Gerade noch bin ich über die Düne gestapft und habe mich auf den Ausblick gefreut – doch das Wasser ist nicht zu sehen. Nur ganz weit am Horizont, gefühlte Kilometer weit entfernt, glitzert ein silberner Streifen. Davor liegt eine matschige Landschaft aus Sandbänken, Muschelstücken und Schlick. Die Erklärung ist einfach: Ich bin zur falschen Zeit gekommen, um das Meer zu sehen.Die Natur hat ihren unbestechlichen Rhythmus, die Gezeiten eben, die eine Küstenlandschaft binnen Stunden komplett verändern können. Tag und Nacht, Winter und Sommer. Warum glaube ich manchmal, dass ich mich als Teil dieses Systems aus dem Konzept „Timing“ einfach so ausklammern kann? Wir sind es eben gewöhnt, dass wir kriegen was wir wollen, zu jeder Zeit und zu den Bedingungen, die wir wir uns wünschen. Das ist zumindest so, wenn wir beim Online-Händler bestellen oder uns unsere Einkäufe nach Hause bringen lassen. Wir können in den Supermarkt gehen und das ganze Jahr über Dinge kaufen, die nicht immer heimisch sind, weil wir sie von überall her bekommen können. Schließlich ist immer irgendwo auf der Welt Sommer. Doch was macht das mit uns?
>>Der Garant für persönliche Krisen<<
Ehrlich gesagt kenne ich das besser als ich zugeben möchte. Manchmal kann ich eben bestimmte Dinge nicht aus dem Handgelenk schütteln, die an anderen Tagen so leicht fallen, dass ich beinahe nicht glauben kann, dass ich ein und dieselbe Person bin. Ich erwarte von mir, dass immer irgendwie Sommer ist. Es ist doch normal, dass ich immer auf Knopfdruck Sinnvolles schreiben kann, sportlich Höchstleistungen bringe, gute Laune habe und dass mir Stress nicht viel anhaben kann, oder? Diese Erwartungshaltung ist der Garant für persönliche Krisen. Eigentlich muss mir doch klar sein, dass eben alles einer gewissen Saison unterworfen ist. Wie kann ich lernen, dass ich meine Gezeiten respektiere?
© Florian Beier 2022-09-10