von Julia Schulze
Jeder Tag beginnt gleich. Mein Wecker klingelt um 07:30, kurz danach berühren meine Füße den weichen Teppichboden und ich tapse ins Bad. Dort putze ich meine Zähne und recke und strecke mich. Blitzschnell dusche ich mich, bevor mein Bruder beginnt, in einer nervtötenden Lautstärke gegen die Tür zu trommeln und mir androht, unseren Boiler abzudrehen, falls ich nicht bald aus dem Bad komme. Hastig kämme ich mir die Haare und quetsche mich an Matteo vorbei, um Frühstück für ihn, mich und unseren Opa zu machen. Mein Opa ist schon sehr alt, das haben die meisten Opas gemeinsam, aber was ihn von den anderen abhebt, ist, dass er den Schalk noch im Nacken sitzen hat. Manchmal erinnert er mich an einen kleinen Jungen, der am liebsten den ganzen Tag nur Streiche spielt. Er lebt am liebsten im Hier und Jetzt und hängt nicht nostalgisch an der Vergangenheit. Aber das sollte heute niemand mehr tun, um unsere Ruhe, Ordnung und Einheit zu respektieren. Oft versteckt er kleine Geschenke für Matteo und mich und erzählt uns Witze. Einmal hat er mir anvertraut, dass er mir und Matteo mitgeben möchte, niemals unsere Kreativität zu unterdrücken. Ich streiche meinen Rock der Schuluniform glatt und mache Rührei für uns drei. Aus dem Flur höre ich den schlappenden Gang meines Opas und beginne zu lächeln. „Guten Morgen, Opi“, sage ich und gebe ihm einen Kuss auf die Wange. Er lächelt: „Danke fürs Rührei, Angelina.“ Matteo unterbricht unsere Begrüßung, indem er aus dem Bad platzt und ruft: „Lasst ja etwas für mich übrig!“ Ich rolle die Augen, ich kenne niemanden, der so verfressen ist wie mein kleiner Bruder. Nach dem Frühstück holt uns der Schulbus ab. Auf der Fahrt schweigen wir beide, denn unsere Gemeinschaft lebt Ruhe und Ordnung vor. Also wird eben genau das auch von Teenagern und Kindern erwartet. Die Einheit diszipliniert alle, die diese Ruhestunde am Morgen stören; man muss dann gemeinschaftliche Aufgaben erledigen, um den Einheitsgedanken zu verinnerlichen. Das tut aber jeder von klein auf. Zum Glück hilft dabei unser Staat. Das Motto: Ruhe, Ordnung und Einheit lernt jeder von uns. Allein deswegen ist es wichtig, dass unser Alltag immer gleich bleibt. So lernen wir es in der Schule, denn früher hieß unser Staat nicht „Die Einheit“, der Name ist in Vergessenheit geraten und darf auch nicht von den älteren, wie meinem Opa, der diesen Staat noch kannte, erwähnt werden. Mich erfüllt es, all diese Regeln zu verinnerlichen und zu befolgen, denn so diene ich der Einheit und fühle mich gut aufgehoben in der Gemeinschaft. Das ganze Leben orientiert sich an Jahresabschnitten. Matteo und ich befinden uns gerade im Abschnitt Schule, der von sechs bis neunzehn Jahren unseren Alltag prägt. Auf mich kommt bald der Abschnitt Arbeit zu, um dann in den Abschnitt meines Opas, der Gemeinschaftsphase, zu enden, wo man dann alle fünf Jahre je nach gesundheitlicher Verfassung und mentalem Zustand eine gemeinschaftliche Aufgabe zugeteilt bekommt. Mein Opa wässert nun also die Pflanzen in den Grünanlagen unseres Dorfes. Die Fahrt endet vor der Schule und somit endet auch mein Gedankenfluss, bevor ich mich mit meinen Klassenkameraden in eine Reihe aufstelle und wir gemeinsam auf den Schulhof laufen, wo unsere Direktorin auf uns wartet. Auf dem Hof ertönt ein Gong, wir wissen alle, was wir zu sagen haben, und wiederholen das Motto unserer Gemeinschaft laut im Chor. Ich fühle mich bestärkt und erfüllt.
© Julia Schulze 2024-08-31