Als Du gingst – Teil 1

Kim Michel

von Kim Michel

Story

Was ist Familie für mich? Irgendwie sind es die Menschen, die einfach immer da waren. Lange Zeit habe ich es nicht mal richtig wahrgenommen, denn es war ja selbstverständlich. An jedem Geburtstag, jedes Jahr zu Ostern, zu Weihnachten, wenn ich krank war… Immer war jemand da.

Es war eine schon fast langweilige Tatsache, die ich erst zu schätzen begann, als es plötzlich nicht mehr so war und ich mit meinen 16 Jahren fühlen musste, wie es ist, wenn dieses Konstrukt aus Liebe und Unterstützung zu bröckeln beginnt. Es war ein komisches Gefühl, da ich vorher nie wirklich darüber nachgedacht hatte, was Familie eigentlich bedeutet.

Ich habe das, was passiert ist, nie ganz verstanden. In der Vergangenheit stellte ich mir alle möglichen Fragen über dieses eine Rätsel, welches nie gelüftet werden würde – werden könnte. Wieso hat sie es getan? Hat sie auch mal an uns Hinterbliebene gedacht? Und vor allem: Wie konnte sie uns das nur antun? Meine Mutter behauptete einmal, dass die Zurückgebliebenen immer viel mehr Schmerz empfinden würden als die, die gehen. Und sie hatte verdammt nochmal recht damit.

Ich glaube, dass auch der Rest meiner Familie sich mit diesen Fragen auseinandersetzt. Doch kaum jemand spricht darüber. In dieser Zeit, dieser für uns alle schweren und für manche unertragbaren Zeit, brachte es niemand zustande, seine Gefühle in Worte zu fassen. Das ist der Grund, warum ich wieder anfange zu schreiben.

Generell redet meine Familie nicht viel darüber. Wie fühlen sich die anderen? Was sind ihre Gedanken dazu? Ich habe mich nie getraut, zu fragen. Dabei sprechen wir sonst über so vieles, sind offen. Natürlich haben wir uns mal gefragt, wie es uns geht. Aber ich glaube, über den Rest, da möchte niemand so richtig sprechen. Ich weiß auch gar nicht, was ich sagen sollte.

Über ein Thema wird überhaupt nicht gesprochen: die Schuld. Es wurde wie Dreck unter den Teppich gekehrt. Ich meine, jeder von uns fühlt sich irgendwie schuldig, denke ich. Wir hätten öfter anrufen, uns mehr bemühen können. Aber das haben wir nunmal nicht.

Und jetzt können wir es nicht mehr rückgängig machen. Wir können nicht die Zeit zurückdrehen und alles ungeschehen machen oder auch nur einen Teil ändern. Auch, wenn ich es verändern würde, alles besser machen würde, wenn ich doch nur die Chance dazu hätte.

Wir können nur noch versuchen, für einander da zu sein. Einander zuzuhören. Einander zu unterstützen. Und das ist Familie für mich.

© Kim Michel 2022-08-11

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