Als ich dich fast verloren hätte

Emily Fenske

von Emily Fenske

Story

Mit Tränen in den Augen knalle ich das Buch auf den Tisch.

Ist es denn nicht genug, dass ich jeden Tag im selben Raum Unterricht habe wie du? Ist es denn nicht genug, immer Lächeln zu müssen, auch wenn ich aus tiefster Seele schreien will? Ist es denn nicht genug, jeden Tag zu sehen, wie dieses schlanke, blonde, perfekte Mädchen mit den beneidenswerten langen Wimpern sich an ihn heran schmeißt, als wärst du das letzte Glas Wasser in der Wüste?

Nein, das ist es nicht.
Tag für Tag und Nacht für Nacht verfolgen mich die schönen Momente und die lagen Gespräche, die viele Stunden, die wir gemeinsam verbracht haben. Die langen Gespräche, die vermisse ich am meisten.
Du bist der einzige Mensch, der mich nicht verurteilt, habe ich eine andere Meinung als die breite Masse, der mir bedingungslos zuhört, wenn ich wieder und wieder im Kreis rede und andauernd von dem eigentlichen Thema abkomme. Und der einzige, der mich fest in die Arme schließt, auch wenn ich grundlos weine.

Tagtäglich muss ich aus dem Bett aufstehen, in dem wir uns gemeinsam Liebesdramen angesehen und uns über das kopflose Verhalten frisch Verliebter amüsiert haben. Dann das Kleid im Schrank hängen sehen, das du so sehr an mir geliebt hast. Und immer wieder die kleinen Notizzettelchen in deiner Handschrift zwischen meinen Schulunterlagen finden, die mich ermutigen sollen, niemals aufzugeben.

Noch viel mehr als diese Kleinigkeiten, die in Wahrheit für mich niemals nur ein wenig bedeuteten, vermisse ich deine Stimme, die mir abends „Gute Nacht“ zugeflüstert hat, kurz bevor mir die Augen zufielen.

Und jetzt? Jetzt halte ich diese Distanz zu dir nicht mehr aus!
Auf meiner Kommode stehen immer noch die vertrockneten Rosen, die du mir „einfach so“ mitgebracht hast. Jeden Morgen erinnern sie mich daran, wie lange du schon nicht mehr mit mir sprichst, wie lange ich dich schon vermissen muss.

Ich habe nie geahnt, dass unsere Vorstellungen für die Zukunft so weit auseinandergehen, dass du wütend aus dem Haus stürmst und wir uns monatelang aus dem Weg gehen.

Karriere gegen Familienleben.
Kurz vor dem Ende der Schule, kurz vor dem Abitur stellen so viele Fragen und Pläne unsere gemeinsame Zukunft auf die Probe.
Bin ich bereit, meine Karriere aufzugeben, um die Stadt nicht verlassen zu müssen und bei dir bleiben zu können? Bin ich bereit, meine Träume aufzugeben?

Dir habe ich gesagt, dass ich nicht dazu bereit wäre. Und du könntest deine Familie nicht einfach so hinter dir lassen.
Jetzt bin ich mir allerdings nicht mehr so sicher, aber du bist schon weg, ohne dass wir einen gemeinsamen Weg finden konnten.
Das Einzige, das ich dir gerade sagen möchte, ist, wie sehr ich dich liebe. Und da stehst du auf der anderen Straßenseite und hältst ein Schild in der Hand, auf dem geschrieben steht: „Bitte verzeih mir“

© Emily Fenske 2023-09-01

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Traurig