Die dicke Gabi stand auf einem Holzschemel und hievte ihren voluminösen Körper auf ihren orangenen Steyr Traktor hinauf. Mit einem tiefen Seufzer schaukelte sie ihren Hintern in die harte Sitzschale des Gefährts. Danach zog sie den, an einer Schnur befestigten Schemel, den sie als Aufstiegshilfe nutzte, zu sich hoch. Ihre Mutter, die Züli, kletterte fast mit Leichtigkeit auf den Kotflügel des Hinterrads und nahm auf dieser blechernen Sitzvorrichtung Platz. Langsam tuckerte der Traktor los. Auf der Rückseite konnte ich noch die kleine Tafel mit der erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h lesen.
Unsere Nachbarinnen waren komische Frauen. Sie redeten mit niemandem und verweigerten sogar dem Postler das Haus zu betreten. Nicht einmal am Sonntag oder zu den Feiertagen gingen sie, so wie alle im Dorf, zur Kirche. Nur die Schwester der Züli, die Juli, kaufte in der kleinen Greißlerei im Ort vereinzelt Lebensmittel. Die Leute hatten die Juli allerdings schon lange nicht mehr gesehen. Man munkelte, die Juli sei ganz schön eigen geworden und meinte damit, sie wäre im Oberstübchen nicht mehr ganz in Ordnung. Andere erzählten sich, die Juli sei schwer krank und womöglich bereits gestorben. Mit meinen acht Jahren plagte mich die Neugierde. Obwohl es sich gruselig anfühlte, nutzte ich die Abwesenheit der dicken Gabi und ihrer Mutter und schlich mich zum Nachbarhaus, um vielleicht einen kurzen Blick durchs Fenster zu erhaschen. Das Haustor stand einen Spalt offen und forderte mich so regelrecht auf einzutreten. Im Otter stand ein ausrangierter Ochsenwagen, der einige zerschlissene Kartoffelsäcke beherbergte, aus denen sich dünne Triebe durch so manches Loch ihren Weg zum Tageslicht erkämpften. Es türmten sich Holzkisten in verschiedenen Größen. Ich dachte, vielleicht fand da drinnen die tote Juli ihre letzte Ruhestätte. Mutig hob ich einen Deckel an und sprang sicherheitshalber zur Seite. Eine Mäusefamilie lugte mir, genauso wie ich, total erschrocken entgegen.
Die Küchentüre war nur leicht angelehnt. Als ich sie vorsichtig aufzog, flatterte ein braunes Huhn aufgeregt gackernd dicht an mir vorbei. Ich erschrak gewaltig und hielt mir den Mund zu, um einen heftigen Aufschrei zu unterdrücken. Auf dem Esstisch und den Schränken türmte sich gebrauchtes Geschirr. Eine Katze, die anscheinend ihrem Urinstinkt zu jagen nicht nachkam, schleckte genüsslich einen Teller sauber. Außer dem flüchtenden Federvieh und der kecken Mäuseverweigerin wirkte das Haus verlassen. Aber dann nebenan im Kabinett lag auf einem blau karierten Strohsack eine uralte Frau im Bett. Sie hatte ein wollenes Kopftuch tief ins runzelige, kreidebleiche Gesicht gezogen. Eine viel zu kurze, schmuddelige Decke versuchte ihre hagere Gestalt vor Kälte zu schützen. Ich wagte mich näher ans Bett heran, um zu schauen, ob die Frau die Juli war. Ein beißender Geruch kroch mir in die Nase. Plötzlich ergriff mich nun doch absolute Panik, denn die Alte rührte sich nicht. Ich war mir sicher, die Juli war tot. Sie war nicht meine erste Tote, die ich sah. Unsere Nachbarin, die Neumeister im Sarg sah genauso aus. Nichtsdestotrotz machte ich aber auf dem Absatz kehrt, stolperte über den blechernen Scherm, dessen gelber Inhalt sich in die Spalten des Bretterbodens ergoss. Durch das Gepolter schnarchte die tote Juli laut auf und drehte sich seufzend zur Seite.
© Christa Weißmayer 2022-04-07