Als ich meine Höhenangst vergaß

Lilly Frost

von Lilly Frost

Story

Es war vor fünf Jahren, im Juli. Mein damaliger Lebensgefährte M. weckte mich früh morgens. Ich solle Wanderkleidung und Bergschuhe anziehen und einen kleinen Rucksack packen. Wir hätten etwas vor. Ich hasse Überraschungen! Etwas überrumpelt kam ich seiner Bitte nach. Nur zwanzig Minuten später saßen wir im Auto. Ich hatte keine Ahnung, wo es hingehen sollte. Wir verließen die Autobahn bei Werfen und folgten einer rund fünf km langen Zufahrtsstraße, die beim Besucherzentrum der Eisriesenwelt endete.

Außer uns war kein Mensch da. M. schlenderte zuversichtlich in Richtung Gondel, ich etwas missmutig hinterher. Ein Besuch der Eisriesenwelt war sicher etwas Besonderes, aber mussten wir dafür am Sonntag in aller Frühe losfahren? Wir waren die ersten an der Gondel. Der Betriebsleiter winkte meinen Lebensgefährten und mich heran. Ich stieg mit einem mulmigen Gefühl in die Gondel. Ich habe Höhenangst und in engen Räumen wird mir schnell flau. Mein Mund wurde trocken. M. zuliebe biss ich die Zähne zusammen und versuchte, den herrlichen Ausblick auf die umliegenden Berge zu genießen, während wir gemächlich in die Höhe schaukelten. Ich versuchte, mich zu entspannen und die Augen auf meinen Liebsten zu richten. Bald hätten wir den halben Weg geschafft! Alles würde gut werden.

Doch was war das? Die Gondel schwankte und kam mit einem Ruck zum Stehen. Oh Gott, bitte nicht! Mein Puls beschleunigte. Ich spürte das Blut in den Ohren rauschen. „Alles gut!“, beruhigte mich M., als er meinen entsetzten Blick bemerkte. „Das soll so sein.“

Wie jetzt? Nichts war gut. Die Bahn stand still und ich war in ihr gefangen mit all meinen Ängsten, die drohten, sich zu einer ausgewachsenen Panik zu steigern. Mein Herz raste. Das war doch nicht normal, dass die Gondel einfach so stehenblieb. Womöglich ein technischer Defekt? Bevor ich völlig die Fassung verlor, kniete mein Liebster plötzlich am Boden der Gondel und fuchtelte in seiner Jackentasche herum. Zum Vorschein kam ein kleines Schmuckkästchen. Endlich begriff ich! „Willst du meine Frau werden?“, fragte er mich und streckte mir einen hübschen Ring entgegen.

Als ich ihm um den Hals fiel, liefen mir vor Freude längst die Tränen herunter. „Natürlich will ich!“, rief ich. Erst jetzt merkte ich, dass die Gondel noch immer stand. Die Angst war verflogen. Sie war einem unglaublichen Glücksgefühl gewichen. Mit diesem Mann an meiner Seite konnte ich alles schaffen! Als sich die Gondel wieder in Bewegung setzte, bedauerte ich fast, dass dieser einzigartige Moment vorbei war. Oben angekommen, erwarteten uns einige Mitarbeiter der Bahn.

„Und? Wos hot’s g’sogt?“, fragte einer von ihnen.

M. reckte einen Daumen in die Höhe. Die Truppe klatschte und gratulierte. Jetzt war klar, warum wir so früh aufbrechen mussten: Damit wir die erste Gondel nur für uns hatten. Wir verbrachten einen wunderbaren Vormittag in der Eisriesenwelt. Nie hätte ich gedacht, dass ich meine Höhenangst vor Aufregung vergessen könnte.

© Lilly Frost 2020-07-19

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