Als Sekretärin Julias in Verona

Hannah Knauf

von Hannah Knauf

Story

Mit einem großen geflochtenen Korb biege ich in den Hof von Julia ein. Nur wenige Touristen sind bisher in dieser frühen Morgenstunde an den besonderen Ort der Stadt Veronas eingetroffen. In den letzten Monaten habe ich gelernt, dass mit jeder Stunde des Tages mehr Besucher kommen, bis der Hof überschwemmt von Menschen ist. Ich schlendere über den Weg hin zu der großen Wand unter Julias Balkon. Der Balkon, vor dem Romeo einst gestanden und seine Liebe für Julia preisgegeben haben soll. Ich trete an die Wand heran und ziehe den ersten Brief zwischen den Backsteinen hervor, lege ihn in den Korb und ziehe die nächsten heraus. Ein Blick nach links zu der bekannten Statue von dem hier einst wohnenden Mädchen, dann gehe ich quer über den kleinen Platz zum Briefkasten. Nachdem ich ihn komplett geleert habe, drehe ich mich noch einmal zurück in den Hof und genieße die Ruhe und frühen Sonnenstrahlen, die über den gelben Stein und das Efeu wandern. Ich lächle ich die warme Morgenluft und spaziere ins Büro. Mein Weg führt mich durch die alten Straßen der Stadt, vorbei an auflebenden Plätzen und Schulkindern, die über die Straßen zum Unterricht huschen.

Seit dem Frühling bin ich eine der Sekretärinnen von Julia. Als ich nach Verona kam, kannte ich nicht einmal den bekannten Film ‚Briefe an Julia‘, geschweige denn, dass es diesen Club wirklich gibt. Ich lernte Rebecca beim Aperitif kennen, die mir über ihren Aperol Spritz hinweg von der Organisation vorschwärmte. Am nächsten Tag stellte ich mich dort vor – und wurde angenommen. Seither finde ich mich fast täglich mit Rebecca und einigen anderen Frauen an einem dunklen, schweren Holztisch sitzen und über Liebe reden. Der Sinn der Sekretärinnen von ‘Giulietta’ ist der, dass Liebesbriefe aus der ganzen Welt ihren Weg uns finden und ausnahmslos beantwortet werden. Die Briefe vom Balkon sind nur ein kleiner Anteil, die meisten kommen per Post. Es gibt ganze Kisten mit Liebesbriefen in jeder denkbaren Sprache, die nur darauf warten, von uns angenommen zu werden.

Es ist eine Arbeit, die mich vom ersten Tag an ebenso faszinierte wie erdrückte. Die meisten Briefe stecken voller Trauer und Hoffnungslosigkeit; gebrochene Herzen, zerfallene Ehen, verstorbene Geliebte. Mut zu machen und mit Optimismus zu antworten wurde oft zur Herausforderung.

Ich trete in das Büro ein. „Vuoi un caffé?“, ruft mir jemand aus der Küche zu und ich nehme dankend an. Den Korb stelle ich auf einen Hocker, dann angle ich mir einen deutschen Brief aus der Kiste, die schon seit einer Woche auf meinem Platz auf mich wartet. Ich hole tief Luft und öffne das Schreiben. „Liebe Julia, ich will dir für deine guten Ratschläge in der Vergangenheit danken. Heute habe ich gute Nachrichten: Ich werde heiraten!-“ ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus. Zwischen all dem Kummer und Sorgen gibt es Zuversicht. Ich lese den Rest des Briefes, dann öffne ich das Tintenfass und beginne meine Antwort.

© Hannah Knauf 2021-02-20

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