von Gunny Catell
Nachdem ich das Magische Theater betrat, wusste ich, dass ich selbst ein Steppenwolf war und von nun an die arme kleine Seele mit anderen Augen anblickte. Ich befand mich in einer Phase meines jungen Lebens, in der ich beruflos war und langsam familienlos und heimatlos wurde.
Als ich 16 war, verschlang ich Hermann Hesse, sowohl seine Romane als auch seine Bibliothek der Weltliteratur. Der „Steppenwolf“ zog mich magisch an und auch ich erlebte mich als Doppelwesen: Als Mensch war ich an schönen Gedanken, Musik und Philosophie interessiert und Anhänger von Kompromissen – als Wolf war ich ein vereinsamter Zweifler an der Gesellschaft, der sich für einen Außenseiter und stillen Revolutionär hielt.
Ja, Siddhartha war mir Kult. So wie er wollte ich durch die Welt wandeln, die Schönheiten der Natur bewundern und weise neue Leute kennenlernen, die mich als vollwertigen Menschen akzeptierten. Der Weg war so wichtig wie das Ankommen. Auch Narziss und Goldmund offenbarte ein Gleichnis, das ich nicht sofort verstand. War es das Geheimnis der Freundschaft, der Liebe, oder doch mehr? Als Jugendlicher, der Diskriminierung erfahren hatte, waren diese Geschichten extrem aufbauend und sinnstiftend, um zu verhindern, deprimiert an Gleichaltrigen zu verzweifeln.
Als ich später per Interrail durch Europa fuhr, reiste ich wie Siddhartha in die geheimnisvollsten Gegenden auf der Suche nach der „wahren“ Welt. So führte mich meine erste Reise zu den Loire Schlössern, wo ich mir vorstellte, ein Prinz zu sein. In Paris lernte ich von Hesse die Kunst des Müßiggangs. Jeden Tag verbrachte ich in einem neuen Park und lernte das Le savoir-vivre, die Kunst, das Leben zu genießen. In Spanien besuchte ich die Orte, wo Goya und Dali gelebt hatten, und in Dublin Oscar Wilde.
Auf den Spuren von Van Gogh schlich ich durch das dämmrige Arles und die umgebenden Felder, und fühlte mich authentisch in seine Gemälde hinein.
Da ich um 3 Uhr morgens meinen Anschlusszug hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als am Bahnhof von Arles zu rasten. Da es dort keine Schlafplätze gab, versteckte ich mich eingerollt in einem Gepäckschließfach und hoffte, dass niemand seine Koffer in meine „Gefängnis“-Zelle stellen und mich damit einschließen würde. Als ich jedoch einschlief und erst um 4 Uhr erschreckt aufwachte, hatte ich den Zug verpasst und musste noch weitere drei Stunden zusammengekauert liegen. Ich fühlte mich hier wie im Magischen Theater, wo niemand wusste, was sich genau in den geheimen Logen verbarg. Hinter dieser Tür aber lag ein einsamer Wolf, und ich war froh, dass mich niemand entdeckt hatte.
Die Reise ging weiter nach Basel, wo Hesse seine Kindheit verbrachte. Als ich in der Nacht ankam, hatte ich nur drei Stunden Zeit. Ich rannte durch die Altstadt zum Haus am Spalenberg 22, dessen Fassade ihn zur Figur des Steppenwolfes inspiriert hatte.
Und hier wollte ich mir die letzten Worte von Goldmund an Narziss vorstellen: „Ich möchte, dass du immer glücklich wirst!“
© Gunny Catell 2020-06-19