von Sonja M. Winkler
Vor einer Woche bin ich an diesem Straßenlokal vorbeigekommen und hab‘ mir gedacht, hier würde ich gern einmal zu Mittag essen. Wie von Zauberhand gezogen stehe ich jetzt vor der Kreidetafel, die neben der Tür lehnt, und lese: Tagesteller 6,90 €.
Ich such‘ mir einen Platz unter einem der aufgespannten Sonnenschirme. Mir fällt der zartknochige Mann am Nebentisch auf, er dürfte um die sechzig sein, weißes Hemd, weiße Haare, warme Augen. Er sitzt so, dass seine Beine auf beiden Seiten der schmalen Holzbank abgestellt sind. Sein Oberkörper ist mir zugewandt. Ich bestelle einen vegetarischen Tagesteller und ein Glas Wasser. Als ich mich anschicke, ein Foto von der Begrünung zu machen, steht der Mann auf und geht aus dem Bild. Er sieht mich an, lächelt, setzt sich wieder. Von Zeit zu Zeit führt er ein Glas mit einer weißen Flüssigkeit an seine Lippen, nimmt einen Schluck.
Über Ayran kommen wir ins Gespräch. Das mit Wasser verdünnte Joghurt, leicht gesalzen, sagt er, und in seiner Stimme schwingt Stolz mit, gehe eigentlich auf die Kurden zurück. Damals seien sie von den Türken ausgelacht worden, aber jetzt gilt Ayran als das türkische Nationalgetränk und ist eine profitable Geschäftsidee. Sind Sie Kurde, frag‘ ich ihn aufs Geratewohl. Ja, sagt er, als junger Mann sei er nach Österreich gekommen, mit der Familie. Er spricht akzentfrei Deutsch, drückt sich gewählt aus. Nur manchmal, wenn er nach einem passenden Wort sucht, hält er ein wenig inne.
Mein Tagesteller wird serviert. Während ich mich übers Gemüse hermache, höre ich ihm zu. Als er vor 40 Jahren nach Österreich kam, erklärt er, sei es ihm so vorgekommen, als ob Deutsch ein Dialekt des Kurdischen sei. Ich spitze die Ohren. Das Kurdische und das Persische seien verwandte Sprachen, sagt er. Das Persische, ergänze ich, Nachfahre von Sanskrit, gehört zur indogermanischen Sprachfamilie. – Das Kurdische eben auch, sagt er. Und schon hat er Beispiele parat. Bruder heißt bra und Wasser av. Ich nicke, weil’s schlüssig klingt. Lateinisch frater und aqua passen auch ins Lautbild, ebenso unsere Au und der Flussname Ache. Warum ich das alles weiß, will er wissen. Er sei an die Richtige geraten, sag‘ ich, denn ich würde mich mit den germanischen Dialekten recht gut auskennen.
Er könnte auch schon in Pension sein, sagt er, aber sein Beruf mache ihm Spaß. Er ist Sozialarbeiter. Wir kommen vom Hundertsten ins Tausendste, reisen von Persien, wo der Diwan eine Schreibstube war, durch die Türkei bis nach Österreich, wo er ein beliebtes Sitzmöbel ist, und nicht zu vergessen, die Gedichtsammlung von Goethe. Er erzählt von den Jesiden, einer kurdischen Minderheit, und von Zarathustra, der vor 3000 Jahren lebte und zu dem mir nur Nietzsche einfällt, er spricht von einem Heiligtum, irgendwo im Iran, wo man die Toten in Höhlen begrub, auf dem Plateau eines Berges, und Aasgeier ihre Gebeine blank nagten.
Als ich mich verabschiede, sagt er noch, er sei Stammgast in diesem Lokal.
Und ich komme wieder.
© Sonja M. Winkler 2022-07-01