von Andrea Stix
Ist es nicht interessant, dass wir uns an manche Begebenheiten ein Leben lang erinnern? Wenn uns etwas sehr bewegt, dann wird das tief in unserem Gedächtnis abgespeichert und kann oft sehr detailliert abgerufen werden.
Wenn ich Sie jetzt ersuchen würde, mir über Ihr erstes Auto zu erzählen…. Darüber könnten wir uns gut eine Weile unterhalten. Ich wüsste dann, welche Farbe, welche Marke, die Macken des Wagens, die Ihnen schließlich lieb geworden sind, wie aufregend die erste Ausfahrt war, usw. Bei der Frage nach dem dritten oder vierten Auto überlegen die meisten Menschen oder wissen es gar nicht mehr so genau. Es war nicht mehr so aufregend wie bei der ersten Ausfahrt.
Eine Übersiedlung nützen wir doch oft gleich als Gelegenheit, uns von Dingen zu trennen. Aber von gewissen Gegenständen fällt es uns schwer. Das erste Stofftier. Schon abgewetzt und unansehnlich, aber ein wichtiger Seelentröster, der es nicht verdient hat, im Müll zu landen.
Die Taschenuhr, eine Erinnerung an den Großvater. Sie liegt das ganze Jahr über gut verschlossen in einer Lade. Heute ist sie wahrscheinlich sehr viel wert. Und dennoch bringen es die meisten Menschen nicht übers Herz sie zu verkaufen. Immer wenn diese Uhr zur Hand genommen wird, denken Sie an die schönen Stunden mit dem geliebten Großvater. Er hatte immer ein offenes Ohr für großen und kleinen Sorgen.
Können Sie sich noch an Ihre erste Liebe erinnern? Fragen Sie sich manchmal, was aus ihr geworden ist? Haben Sie Fotos oder andere Erinnerungsstücke aus dieser Zeit aufbewahrt?
Diese starke Emotion von damals bleibt auch bei Demenz erhalten. Frau Müller lässt mich immer wieder mal an diesen Erinnerungen teilhaben 1)
Nachdem Frau Müller schon fortgeschrittene Demenz hat, sind die aktuellen Ereignisse nicht mehr abrufbar. Deswegen sprechen wir oft über frühere Zeiten. Als wir wieder einmal über ihre Hochzeit geplaudert haben, steht Frau Müller auf und geht gezielt zum Schrank. Sie holt eine Schachtel heraus, in der sie Fotos aufbewahrt hat. Ich warte ab, in der Annahme, dass sie mir besondere Fotos von ihrem Mann zeigen möchte.
„Da ist ja mein Fred“ ruft Frau Müller und ihr Gesicht beginnt zu strahlen. Bisher hatte sie mir von ihrem Partner Rudolf erzählt. Neugierig gehe ich zu ihr, um das Foto zu betrachten. Fragezeichen entstehen in meinem Kopf, denn der junge Mann auf dem Foto hat so gar keine Ähnlichkeit mit dem Ehemann.
Frau Müller leidet bereits unter starker Wortfindungsstörung. Es dauert eine Weile bis ich sicher bin, dass sie mir gerade von ihrer ersten großen Liebe erzählt: Als junges Mädchen durfte sie zum ersten Mal mit auf Jungscharlager fahren. Und da hat sie Fred kennen gelernt. Dann haben sie sich viele Jahre lang geschrieben und einander versprochen, sich bald wiederzusehen. Aber die Entfernung war zu groß. Und der Traum vom gemeinsamen Leben blieb nur Schimäre.
® Andrea Stix
1) Anmerkung der Autorin: wahre Begebenheit, Name und Ort wurden aus Datenschutzgründen geändert
© Andrea Stix 2020-05-15