Altkirchenslawisch

Story

Ich konnte nur 2 Worte Russisch, als ich begann. Dawai, dawai! Papa brachte sie aus der Gefangenschaft gleich hinter dem Ural links mit. Plus die Info: Die Russ’n seint nette Leit. Das reichte mir vorerst.

Ich dachte: Englisch muss man können, kann nie schaden, Russisch kann man können, kann auch nicht schaden. Damals hieß es bedrohlich: Wenn die Russen kommen…Der erste Winter war hart. Studentenheim weit weg, Öffis ja, aber zu Fuß war ich schneller.

So stand ich mehrmals in der Woche kurz nach Mitternacht auf und saß um 8h bereits in „Altkirchenslawisch“. Ein winziges Institütlein damals, alle Semester zusammen schätzungsweise 25 bis 30 Studentinnen. Ich gendere absichtlich nicht, denn die Männer waren auf der Slawistik (leider) eine absolut vernachlässigbare Spezies.

Die AKSL-Lady war eine Anthrazit-Eminenza, schmal bis hin zu den Lippen, weiß-lila Haar, cremefarbiger Spitzenkragen, Kostüm, tolle Figur, Nancy Reagan-artig. Ein filigranes Persönchen. Beinhart. Sie traktierte uns vom ersten Tag an mit Texten auf Grabsteinen, über die Jahrhunderte verwittert und bemoost, in noch schrägeren Buchstaben als den kyrillischen.

Dazu noch Alt- und Mittelenglisch beim Pinsker. Nie vergesse ich diesen Namen. Er war Sadist und Sprachgenie in Personalunion. An die 30 waren es, als er meinen Weg kreuzte, u.a. Isländisch. Seine Vorlesungen fanden im größten, im Hörsaal A, statt. Allein im 1. Semester waren wir über 200 StudentInnen. Auch Burschen, darunter ein gewisser Wilfried, der nach 2 Semestern aufgab und auf Ziwuiziwui umsattelte.

Auch Altenglisch fand um 8h statt. Die alten KracherInnen litten wohl unter seniler Bettflucht und rissen sich immer um die ersten Vorlesungen kurz nach Ausbruch der Dämmerung. Grottenschlecht gelaunte Sadisten. Anders kann ich mir nicht vorstellen, wie man Kärntner Studentinnen, die sich noch vor den zweispurigen Straßen in Graz fürchteten, in aller Früh so quälen kann.

Es gab Gott sei Dank auch andere. Ich erinnere mich an einen sehr Gemütlichen, ob Russe oder nicht, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall Besitzer dessen, was ich die russische Seele nenne. Ihm habe ich viele Einser im ersten Jahr zu verdanken. Wichtig für den Notenschnitt zur Erlangung des Stipendiums.

Er war ganz entzückt von meinem gefühlvollen „l“ wie man es für Olga braucht. Wichtig, denn die Hälfte der Russinnen heißt Olga. Das Olga-L ist ein weiches l. Durch ein eigenes Zeichen verweichlicht. Wenn man es nicht hinkriegt, reagiert keine Olga auf Olga. Also mehr als 1/4 der Bevölkerung rührt kein Ohrwaschl.

Dieser Mann steht nach wie vor mit rotwangigen Backen vor meinem geistigen Auge, eine männliche Matrjoshka. In der letzten Woche vor den Ferien lud er uns zu sich ein in seinen Kirschgarten (was für ein Klischee!). Wir saßen herum, er erzählte Witze und ließ einen Korb mit rot-goldenen Äpfelchen rotieren. Kein MeTooTyp! Ihm verdanke ich, dass ich nicht schon im 1. Semester alles hinschmiss, sondern erst im 8….

© 2020-01-06

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