von Andrea Weiss
Es scheint nicht ganz sicher zu sein, woher der Altweibersommer seinen Namen hat. Die Erklärung, wonach er von den Flugfäden der Baldachinspinne stammt, die an das graue Haar alter Frauen erinnern, gefällt mir von allen mir bekannten Versionen am besten. Weniger poetisch, wenngleich Wohlgefühl verströmend, ist die meteorologische Sicht, aus der der Altweibersommer eine Phase warmer, trockener Witterung ist und zum Farbwechsel des Laubs beiträgt.
Mit solchen Tagen hat uns der heurige Herbst nicht verwöhnt, dafür entspricht der heutige dem Idealbild eines Altweibersommertages. Die in allen Farben des Herbstes leuchtenden Blätter strahlen gemeinsam mit der Morgensonne ins Zimmer. Beim Öffnen der Haustür entdecke ich zwischen den Ästen unseres Ginkgo-Baums die charakteristischen Fäden in der Morgensonne glitzern. Sie üben einen ganz besonderen Zauber auf mich aus. Die Treppe zum Vorgarten ist übersät mit leuchtend gelben Blättern, deren Form an kleine Fächer erinnert.
Ganz kurz schwanke ich, ob ich die Vergänglichkeit der Jahreszeit bedauern oder mich vom Farbenrausch mitreißen lassen soll und entscheide mich schnell und vehement für Zweiteres.
Wir montieren die Fahrräder am Auto. Auf der Fahrt zum Neusiedler See ist sogar die Autobahn von Farben gesäumt. Beim Blick auf den See, wenn man von St. Margarethen nach Rust hinunterfährt, geht mir wie immer das Herz auf.
Der Radweg zwischen Rust und Mörbisch – in die eine Richtung nahe am Schilfgürtel, in die andere in den Weinbergen mit diesem großartigen Blick auf den See, ist zu jeder Jahreszeit der pure Genuss. Wieder kann ich nicht anders, als das, was sich vor meinen Augen gerade abspielt, als Farbenrausch zu bezeichnen. Die Rot- und Gelbtöne der Weinstöcke, das Grün, Gelb und Braun der Bäume werden in der Ferne ergänzt durch das Blau des Sees. Ich kann es kaum glauben: Er ist heute tatsächlich blau anstelle des gewohnten Schlammbrauns!
Ich spüre, wie sich dieser Tag in meine Erinnerung einbrennt. Wenn der Winter nicht vom Schnee glitzert, sondern sich matschig und grau in grau aufs Gemüt legt, werde ich die Bilder dieses Tages hervorholen. Ich werde mich fühlen wie die Maus Frederick in Leo Lionnis Kinderbuch, die – während ihre Familienmitglieder Vorräte für den Winter angelegt haben – die Farben und Sonnenstrahlen des Sommers gesammelt hat und mit diesen die winterliche Höhle wärmt. Und das Grau wird sich auch bei mir verziehen und dem Fröhlichen, Bunten Platz machen.
Als wir nach einer burgenländischen Jause auf einem Steg weit auf das Wasser hinausgehen, spüre ich ein leichtes Kitzeln im Gesicht und sehe sie: Die langen Haare schweben in Wellen zwischen einem in einen riesigen Kübel gepflanzten Bäumchen und einem Laternenmast. Sie glitzern in der sinkenden Sonne, ein frei schwingender Faden hat meine Wange gestreichelt.
Nur wenig später beschert uns der Sonnenuntergang den letzten Farbenrausch dieses Altweibersommertages.
© Andrea Weiss 2020-10-29