von Cassius Lepus
In den frühen Morgenstunden, wenn die Stadt noch schläft und nur das sanfte Murmeln des Flusses zu hören ist, steht er oft am Ufer und starrt in das dunkle Wasser. Der junge Mann der seinen eigenen Namen kennt, doch der sich dieser Identität nie ganz sicher war, fühlt sich dort am wohlsten, in der stillen, fragilen Zeit zwischen Tag und Nacht.
Er war immer ein Wanderer in seinem eigenen Leben, ein Fremder, der sich selbst nie wirklich begegnet war. In der Schule, im Studium, in Freundschaften – überall schien er zu existieren, ohne wirklich da zu sein. Er spielte die Rollen, die man ihm zuschrieb, trug die Masken, die man ihm aufsetzte. Doch hinter all dem blieb ein Vakuum, eine Leere, die er nicht zu füllen vermochte.
Seine Wohnung war ein Spiegel dieser inneren Zerrissenheit – wenige Möbel, karge Wände, keine persönlichen Gegenstände. Alles schien provisorisch, als ob er jederzeit bereit wäre weiterzuziehen, irgendwohin wo er sich vielleicht selbst finden könnte.
Er dachte oft an seine Kindheit, an die Tage als er noch glaubte jemand zu sein. Doch je älter er wurde, desto mehr verlor er den Kontakt zu diesem kleinen Jungen, den er einst so gut kannte. War er der schüchterne Junge, der immer allein auf dem Pausenhof stand? Oder der Rebell, der versuchte durch Auflehnung einen Platz in der Welt zu finden?
Seine Eltern hatten ihn geliebt, taten dies noch immer, aber sie schienen ihn nie wirklich zu verstehen. Sie wollten, dass er Anwalt wird oder Arzt, oder irgendetwas das vermeintlich Sinn und Sicherheit versprach. Doch er wusste, dass er weder das eine noch das andere sein konnte. Er wusste immer nur was er nicht war, nicht aber was er war.
In den Augenblicken am Flussufer, wenn die ersten Sonnenstrahlen den Himmel färbten, verspürte er manchmal einen Hauch von Klarheit. Das Wasser, welches unaufhörlich floss, erinnerte ihn daran, dass auch er in Bewegung bleiben musste. Vielleicht, dachte er, liegt die Antwort nicht darin zu wissen wer man ist, sondern darin sich in jedem Moment neu zu erschaffen.
Und so ging er jeden Tag weiter auf der Suche nach sich selbst durch die Straßen der Stadt, durch die Labyrinthe seines Geistes, in der Hoffnung, dass er irgendwann in einem stillen Moment am Flussufer, wenn das Licht perfekt ist und die Welt für einen Augenblick innehält, erkennen würde, wer er wirklich ist.
© Cassius Lepus 2024-09-11