von Alina Seiler
Ein Experiment. So unscheinbar wie die vielen anderen Projekte, die ich im Laufe der vergangenen Jahre als freiwillige Probandin bereits absolviert hatte. Und doch sollte dieses Experiment mein Leben verändern. Entscheidend sein, über Leben und Tod. Drei Probanden und eine Frage: Was wäre, wenn du noch eine Woche zu leben hättest?
Ich umklammere mein Handgelenk. Mein Herz stolpert. Ein Brennen, das in meiner Magengegend beginnt und sich hocharbeitet, bis ich das Gefühl habe, es würde mir die Kehle zuschnüren. Angst, die sich in mir ausbreitet, als ich den Kugelschreiber mit einem Klacken aus der Hand fallen lasse. Die Papiere sind unterschrieben. Das Experiment begonnen. Mein Dozent betrachtet mich mit einer Spur Verwunderung und Sarkasmus. „Sie wissen schon, dass sie nicht wirklich sterben, oder?“, nuschelt er in seinen grauen Bart. „Natürlich. Es war nur ein anstrengender Morgen. Meine Tochter wollte unbedingt das Prinzessinnen-Kleid anziehen und ich hatte keine Zeit zu frühstücken. Den Bus haben wir dann auch verpasst und wissen Sie…“. Ich reibe mir mit dem Handrücken über die Augen. Die Augenwinkel noch verkrustet mit Schlafsand und Tränensekret. Mein Dozent hat sich bereits über die Papiere gelehnt und schenkt mir keine Beachtung mehr. Danke auch. Als hätte man als alleinerziehende und studierende Mutter nicht ohnehin schon das Gefühl, nicht gesehen und beachtet zu werden. Ich hebe meine Tasche vom Boden, verlasse mit einem kurzen „schönen Tag noch“ den Raum und begebe mich auf den Weg zu meiner Vorlesung. Leise schleiche ich mich durch den Hintergang in den Hörsaal und nehme in der letzten Reihe Platz. „Auf welcher Seite sind wir gerade?“, frage ich meinen Sitznachbarn. Er blickt kurz auf, murmelt „mhm keine Ahnung“ und widmet sich dann wieder seinem Instagram Feed. Spannend scheint es also nicht zu sein. Betriebswirtschaftslehre. Weil die damaligen Studienratgeber mit einer „breiten Karrieremöglichkeit“ geworben und ich ohnehin keine Vorstellungen von mir und meinem Leben hatte, habe ich mich nach meinem Abitur in diesem Studiengang eingeschrieben. Das war vor nun sechs Jahren, einer gescheiterten Beziehung, der Geburt meiner Tochter und Phasen der Depression und Erschöpfung.
Ich nehme die Unterlagen aus meiner Tasche und überfliege nochmals die Bedingungen. Fragen beantworten, Tagebuch führen, Projektbericht schreiben und am Ende der Woche das Geld kassieren. Es ist wirklich erstaunlich, wie der Körper auf unsere Gedanken reagiert. Wie er widerspiegelt, was wir fürchten und in unserem Kopf zum Leben erwecken. Natürlich weiß ich, dass diese Woche, dass dieses unterschriebene Stück Papier nur ein Experiment ist. Und doch werde ich diese Anspannung nicht los. Diese Sorge, dass es wahr sein könnte, dass all der Kampf der letzten Jahre umsonst gewesen wäre. Dass mein Leben vorbei sein könnte, bevor ich es wirklich gelebt habe.
© Alina Seiler 2023-11-28