amentia

Maria Reiß

von Maria Reiß

Story

Die Violine besteht aus dunklem Holz, und es schimmert golden und bronzefarben. Der elegante Hals ist schlank und poliert, die Maserung des Holzes glatt und wie gemalt. Auf den alten, knarzenden Dielen des Fußbodens liegen verstreut unzählige Papiere und Bündel, beschriftet mit schwarzen, wilden Noten, tanzend auf verblichenem, abgegriffenem Papier. In einer Ecke stapeln sich leere Kaffee Tassen, daneben liegt ein abgenutzter Block Kolophonium.

Die weißen Haare des Bogens sträuben sich, schleifen auf den Boden, und seine Knie schmerzen ihn als er sich auf den kalten Fußboden sinken lässt.

Er platziert die Geige sanft in dem mit Samt eingeschlagenem Kasten, und betrachtet gedankenverloren seine linke Hand. In seiner Rechten hält er in schwachem Griff noch den Bogen, obwohl mittlerweile mehr Haare aus dem Rahmen gefallen als noch gespannt sind. Er sieht Blut auf zwei seiner Fingerspitzen, seine Finger zittern, seine Gelenke sind gequält und matt.

Er beißt sich hart auf die Unterlippe bis er auch an dieser Stelle den bitteren Geschmack von Blut spürt, um einen lauten, zornigen Schrei zu unterdrücken. Es gelingt nicht. Wütende Tränen sammeln sich in seinen müden, blutunterlaufenen Augen. Er hat seit Stunden nicht gegessen, er war seit Tagen nicht draußen, warmes Sonnenlicht auf seiner Haut ist bereits nur mehr ein Echo.

Er wirft den Bogen quer durch den Raum und sogleich verspürt er Panik in seinem Herzen und eilt zu dem schmalen Holzstab, und mit bebenden Händen hebt er ihn vorsichtig wieder auf und legt ihn an seinen Platz im samtenen Kasten neben der Violine. Er umschlingt seine Knie mit den Armen und lässt seinen Kopf fallen, und niedergeschlagen füllt sich seine Seele mit Verzweiflung.

Seit er denken kann plagen sich sein Körper und sein Geist damit, Perfektion und Schönheit auf dem Instrument zu vollbringen, aber es ist nie genug. Immer wird es jemand besseren geben. Immer wird er noch Fehler entdecken. Immer wird er aufgeben. Immer wird er das fragile Instrument wieder aus seinem Kasten nehmen, immer wird er wieder spielen bis seine Hände bluten, und immer wird er wieder voller Qual scheitern.

Spielt nun er auf der Violine, oder spielt vielmehr die Violine ihn? Er verliert sich in dem hohlen, hölzernen Körper, gefangen in tanzenden schwarzen Notenköpfen, von Sinnen, voll von Musik.

© Maria Reiß 2022-08-26