von Daniela Neuwirth
Die Welt will entdeckt und erobert werden, aber gerade reicht es auf der Insel vermummt bis zum nächsten Nahversorger. „So haben wir wohl die Erde bevölkert – mit Strategie und Überlebenskunst. Ob zu Beginn Steine und Viren existiert haben, bis die ersten Dickhäuter kamen?“
Aber da gibt es schönere Geschichten… z.B. die von Auggie Wren, der zwanzig Jahre lang Tag für Tag eine bestimmte Ecke an einer bestimmten Straße in New York fotografierte. Diese SW-Fotos hat er feinsäuberlich in dicke Fotoalben eingeklebt, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Es gab auf den ersten Blick kaum Unterschiede. Die Bilder schienen ident. Das monochrome Schwarz-Weiß verwandelte die Seiten in ein grauweißes Einerlei.
Die meisten Menschen konnten mit den Bildern nichts anfangen, bis einer der Betrachter sich länger vertiefte in das Geschehen auf den Fotos, auf Details fokussierte – weg von den scharfen Linien der Wolkenkratzerfassaden und Straßen. Als Auggie merkte, dass jemand die Menschen auf den Straßen bemerkte, lies er ihm Zeit. „Morgen, morgen und dann wieder morgen”, murmelte er leise, „kriecht so mit kleinem Schritt die Zeit von Tag zu Tag.“
Shakespears zitierte Zeilen machten deutlich, dass Auggie genau wusste, was er tat und kein Verrückter war. Der Besucher nahm sich Zeit zum Hinsehen, bemerkte den Wechsel des Wetters, den Lauf der Jahreszeiten, Unterschiede nach Wochentagen im Verkehrsfluss, begann eine Struktur zu finden mit Weekends. Schließlich fand er auch in den Gesichtern der Personen, die täglich zur selben Zeit die Straße entlang gingen, Unterschiede.
Auggie hatte also die Zeit fotografiert – in tausenden Bildern, beschriftet, datiert und fein säuberlich eingeklebt in ein Papiermanifest, und dies mit einer einfachen Kamera, die ebenfalls zwanzig Jahre auf dem Buckel hatte. Wo die herkam? Ein Jugendlicher, den er in seinem Laden damals beim Klauen erwischt hat, lief weg.
Der Junge war schnell, doch hatte er seine Brieftasche verloren. Auggie entdeckte darin kein Bargeld, aber einen Führerschein und Schnappschüsse, die ihn mit seiner Mutter und Großmutter zeigten. „Wen kümmern die paar Taschenbücher…?“ Er ließ von einer Anzeige ab und wollte ihm die Börse zurückgeben. Es war der erste Weihnachtstag, als er sich auf den Weg machte zur Adresse. Eine ältere Damenstimme fragte, wer da sei. Nachdem etwa 15 Verriegelungen entsperrt wurden, öffnete sich die Tür.
Es stellte sich heraus, dass die Dame blind war, denn sie dachte, es sei der Junge und sie bedankte sich überschwänglich für den Besuch. „Ich wusste, du lässt mich Weihnachten nicht allein.“ Sie bat ihn hinein, schenkte Getränke ein, ließ ihn von seinem guten Job erzählen und wie glücklich er sei. Sie war auch glücklich, schlief bald im Fernsehsessel ein, wonach er das Bad besuchte. Dort standen viele Kartons mit technischen Geräten. Er griff zu einer Kamera, nahm diese für sich mit als Entschädigung und begann zu fotografieren.
© Daniela Neuwirth 2020-12-12