von Louis Eikemper
Im Anflug von innerer Unruhe spürte Henoch, dass es Zeit war das Lesezeichen zwischen die von Eselsohren gezeichneten Seiten seines liebsten Buches „Also sprach Zarathustra“ zu legen. Friedrich Nietzsches zeitloser Epos war in der Literatur als philosophische Dichtung eingeordnet – doch für Henoch mehr ein Stück gebundener Magie! Es war eines der Bücher, die er immer wieder zur Hand nahm. Immer wenn er es las, öffneten sich ihm neue Lehren, welche er zuvor scheinbar übersehen hatte. So abwechslungsreich Nietzsches Inhalte auch waren, so wünschte Henochs Keim der Unruhe doch auch anderer Form der Abwechslung. Er wollte einfach Mal wieder das Schicksal lieben – ausgehen, raus ins Ungewisse! So klappte er Nietzsches Werk zu, erhob sich aus der Versenkung seines Sessels und legte es in aller Zuversicht auf die kobaltblaue Anrichte seines Lesezimmers. Sein Dresscode für diesen Abend: Braune Bootsschuhe, beiger Anzug, weißes Hemd darunter. Der Bart war noch frisch von der Morgenrasur, die Haare gewohnt wuschelig. Um sich der Zeit außerhalb seines eigenen Gefühls bewusst zu sein, legte er die IWC Da Vinci um sein Handgelenk. Vier intensive Spritzer Dior – um die Mystik, die er sich Selbst zuschrieb, über den Geruchssinn im Unterbewusstsein der heutigen Gesprächspartner aufsteigen zu lassen. Dazu etwas vitalisierende Gesichtspflege! Diese ermüdete Visage musste all des Fiebers entledigt werden, dass sich aus dem Lesen von Nietzsches Gedanken ergeben hatte. Nasse Böen peitschten durch die Straßen von Fatum, sodass er seinen smaragdgrünen Regenschirm zur Begleitung griff. Da er sich unsicher war, wohin er heute ausgehen sollte, beschloss er sich von seiner Intuition leiten zu lassen. So folgte er der Route der Primavera entlang und spürte wie sich mit jedem Schritt durch die dem Unwetter gedankten, menschenleeren Fußgängerzonen, die eigene innere Unruhe auflöste. Er roch den Duft vom Petrichor, der sich im niedergefallenen Regen über den Boden der Allee durch die ganze Straße hinweg legte. Henoch betrat schließlich eine Bar namens „Amor Fati.“ Er setzte sich an ihren Tresen. Die Barkeeperin mischte gerade, mit dem Rücken zu ihm gekehrt, andere Drinks fertig – doch schien ihn registriert zu haben. „Guten Abend. Kalt dort draußen, oder? Wie darf ich dein Herz heute erwärmen? Was darf es sein?“ Er schmunzelte. „Nun, wenn Sie mich meinen, Madame. Ich bin heute hier um mein Schicksal zu lieben. Was immer Sie mir also geben werden – ich werde es in seiner Besonderheit erkennen und somit auf seine ganz eigene Art genießen!“ In der Bar wurde es immer ruhiger. Es war, als würde der Raumklang in ihm aufgesogen werden. Neben ihm qualmte ein älterer Herr an einer Eichenholzpfeife und las in der Zeitung. „Man kann nur lieben oder hassen, was verstanden wurde. Wenn du dein Schicksal liebst, heißt das wohl, dass du es verstehst. Das würde dich zu einem sehr weisen Knaben machen.“, brummte der alte Mann. Die Barkeeperin packte sein Handgelenk. „Ich habe hier genau das richtige für dich. Trinke meine Mixtur für’s Lebensbejahen. Ich nenne sie auch Nectar Libertatis.“ Henoch war im Zauber des Moments nicht in der Lage ihr Gesicht zu erkennen, auch wenn er ihr in die Augen schaute. Der Griff war eiskalt und doch wärmte er sein Herz. Keiner besseren Mimik als einem Lächeln bewusst, setzte er eines auf. „Das klingt wunderbar. Vielen Dank, Madame.“ So trank er die Mixtur und sollte nicht mehr derselbe sein…
© Louis Eikemper 2023-11-22