Amore on- und offline

Madeleine Wolensky

von Madeleine Wolensky

Story

40 Jahre bevor Tinder Premiere auf der Weltbühne hatte, verliebte ich mich auf meiner Maturareise durch Italien in einen hinreißenden römischen Jüngling mit dunklen Locken, schwarzen Augen und dem schönen Namen Elio. Wir verbrachten ein paar gemeinsame ebenso an- wie erregende Stunden in Florenz und schrieben uns in der Folge sehnsüchtige Briefe. Ab und zu rief er mich an, mein Italienisch reichte aber für längere Konversationen nicht aus und außerdem waren internationale Telefongespräche damals ohnedies zu teuer. Wie so manche Jugendliebe verglühte so auch unsere nach ein paar Monaten.

Im Jahre 5 vor Tinder wurde ein kleines Restchen Glut, das sich zwischen den in den Tiefen meines Bücherschranks aufbewahrten Liebesbriefen verborgen hatte, wieder entfacht, als mich Elio über das Internet ausfindig machte und mir per E-Mail folgende Nachricht schickte:

“Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst, ich habe dich nie vergessen…”

Darauf hatte ich sehr schnell eine Antwort:

“Natürlich erinnere ich mich an dich! Ich habe alle deine Briefe aufgehoben…”

Und die las ich jetzt wieder, ein wenig wehmütig, worauf meine storia d’amore mit Elio einen neuerlichen Anlauf nahm und zu einer Online-Liebesgeschichte, zu einem Roman in E-Mails wurde. Zuerst frischten wir unsere Erinnerungen mit alten Bildern auf, dann tauschten wir auch neue Fotos aus. Auf denen entpuppte sich mein aus der fernen Vergangenheit plötzlich aufgetauchter italienischer Jugendfreund als älterer Signore, der nach wie vor volles dunkles Haar hatte und schlank, sportlich und ziemlich attraktiv geblieben war. Je länger unser virtueller Gedanken- und Bilderaustausch andauerte, desto größeren Gefallen fanden wir aneinander.

“Amore mio, immer wieder sehe ich mir deine Fotos an. Du bist eine wunderschöne Frau, sehr sinnlich und sexy. Mein ganzes Dasein ist völlig durcheinander vor Verlangen nach dir.”

Und dieses Verlangen steigerte sich mit jedem weiteren E-Mail. Einem Wiedersehen, das wir beide immer heftiger wünschten, stand allerdings ein Hindernis entgegen: Wir waren beide gebunden.

Es war aber nur eine Frage der Zeit, bis uns unsere Online-Liebesgeschichte nicht mehr genügen würde.

“Ti amo” schrieb mir Elio nicht nur in E-Mails, sondern auch per SMS, wenn er gerade keinen Computer zur Verfügung hatte. Der Inhalt seiner Nachrichten, seine Worte und als Reaktion darauf auch meine wurden leidenschaftlicher, zweideutiger und mein italienischer Wortschatz verbesserte sich zusehends, vor allem was die erotischen Vokabeln betraf. Auch die Fotos wurden gewagter, ungeachtet unseres nicht mehr taufrischen Alters. Sie steigerten zusätzlich unsere Sehnsucht und Lust, bis es eines Tages so weit war und ich nach Rom fuhr.

Im Nachtzug erreichte mich die SMS:

“Es wird so schön sein, dich nach all dieser Zeit wiederzusehen. Ich will dich, ich begehre dich, ich küsse dich. Denk daran, dass wir uns morgen lieben werden.”

Endlich offline.

© Madeleine Wolensky 2021-10-31

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